1.6 - Isla

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Am Dienstag schlendere ich zwischen Vorlesung und Seminar zusammen mit Cara und Gabriel über den Campus. Für Mitte April ist es ganz schön warm und ziemlich beständig. Während die Sonne auf mich und meine Freunde hinab scheint, genieße ich lächelnd. Auch, wenn die letzten Tage ziemlich anstrengend waren, bin ich irgendwie froh.

Gabriel erzählt, dass sein kleiner Bruder in Spanien gestern Firmung hatte und zeigt uns Fotos. In seiner Stimme kann ich ein bisschen Heimweh erkennen, auch, wenn ich weiß, dass er hier glücklich und dankbar für die Chance ist, in Deutschland zu studieren. Mir geht es ähnlich, manchmal vermisse ich Neuseeland oder Vietnam (letzteres seltener, weil ich die Besuche mit meiner Mutter verbinde. Obwohl ihre Schwester und Mutter echt cool sind. Die Familie von Dad allerdings auch.) Cara dagegen lebt seit ihrer Geburt in dieser Stadt (okay, bis zum Studium hat sie im nächstgelegenen Dorf gelebt) und will auch nicht weg, da sie hier verwurzelt ist. Gabriel spricht immer von seiner spanischen und seiner deutschen Heimat, ich dagegen bin mir überhaupt nicht sicher, wo meine Wurzeln sind.

Einer der netten Typen unseres Studienganges läuft an uns vorbei, doch er sieht ziemlich zielstrebig aus, weshalb er uns auch nicht sieht. Mit den Augen verfolge ich ihn und erblicke Juna. Sie bleibt stehen, als er sie anspricht, zeigt ihm dann jedoch den Mittelfinger und dreht sich um. Der Typ sieht etwas enttäuscht aus, doch scheinbar hat er nicht wirklich etwas anderes erwartet, denn er zuckt mit den Schultern und läuft wieder an uns vorbei. Diesmal nimmt er uns wahr.

„Ach, hey! Na, was geht", lächelt er, wobei er seine Hände in die Hosentaschen stopft. „Alles klar, bei dir?" Ich lächel ihn freundlich an. „Ja, läuft", nickt er. „Außer, dass du eben kein Glück gehabt hast", grinst Cara. Gabriel platzt ein Lacher heraus, dann bemüht er sich um ein teilnehmendes Gesicht. „Bei unserer Kommilitonin? Nee, aber war ja eigentlich klar", erwidert er und zuckt mit den Schultern. „Aber nen Versuch war's wert." Er grinst mich an. „Du bist doch auch single, oder?" Ich lache los. „Also erstens hab ich grad null Zeit, zweitens komme ich mir wie ne zweite Wahl vor, was mich aber nicht stört, weil ich drittens eh nicht auf Typen stehe", zähle ich auf. „Oh... achso, sorry. Naja, ähm, schönen Tag noch, ne?" Er nickt uns zu, ehe er uns wieder alleine lässt.

Cara und Gabriel sehen mich an, ehe sie zu lachen beginnen. Ich stimme mit ein. „Was... war das... denn?", bringt meine beste Freundin zwischen dem Lachen hervor. Ich schüttel kichernd den Kopf. „Der Junge muss ja ganz schön desperate sein", grinst Gabriel. „Wenn er sogar mich fragt, oder was?", motze ich gespielt. Dabei ziehe ich meine kurze Strickjacke zurecht, die den Blick auf mein Bäuchlein frei gibt, da ich nur einen Knopf geschlossen habe – den über dem Steg meines BHs. (Glücklicherweise bin ich sehr confident mit meinem Körper.) Mir kommt in den Sinn, dass dieser Knopf wahrscheinlich nie von jemand anderem als mir selbst geöffnet wird, zumindest nicht in nächster Zeit. Es ist gerade einfach kein Mädchen in Sicht.

Zumindest nicht im übertragenden Sinne, denn wenn ich meine Augen ein kleines bisschen bewege, kann ich Juna sehen. Zu meiner grenzenlosen Erstaunen hat sie ebenfalls ihren Blick auf mich gerichtet. Sobald sie allerdings meine Augen auf sich zu spüren scheint, wendet sie diesen ab. (Leider spürt sie das ziemlich schnell.) (Quasi in Lichtgeschwindigkeit.)

Das Seminar ist ziemlich interessant, weshalb die Zeit wie im Flug vergeht. Vor dem Unigebäude verabschiede ich mich von Gabriel, da Cara (und Juna) andere Seminare belegt haben, ehe ich mir beim nahegelegenen Bäcker ein belegtes Brötchen hole. Dieses verputze ich auf dem Fahrradweg zur Kita, da mir mehr Zeit nicht bleibt.

Dort angekommen, mache ich mich auf die Suche nach Arlo. Dieser baut gerade mit Silas einen großen Lego-Turm, lässt sich jedoch zum Glück relativ leicht dazu überreden, morgen weiterzubauen. Silas trägt heute einen pinken Pulli mit einem großen Schmetterling drauf und sieht ziemlich niedlich aus. Die beiden Jungs verabschieden sich ernsthaft voneinander.

Gerade, als ich mein Fahrrad aufschließe, indessen Arlo mich fröhlich auf Englisch zuquasselt, fällt mein Blick auf zwei Personen, die der Kita näher kommen. Es sind Juna und ihr tätowierter Kumpel (zumindest hoffe ich, dass er ein Kumpel ist). Heute bin ich mir ganz sicher. Die beiden gehen, in ein Gespräch vertieft, durch das Törchen. Arlo zieht an meinem Ärmel, weshalb ich meine Beobachtungen leider unterbrechen muss. „Gehen wir nach Hause?"

Auf dem Weg lausche ich den Erzählungen meines kleinen Bruders nur mit halbem Ohr, da ich mich frage, ob der Tätowierte wirklich nur ein Kumpel von ihr ist. Warum sollte sie ihn dann mitnehmen, um ein kleines Kind abzuholen? Wessen Kind ist es überhaupt, dassabgeholt wird? Irgendwie stimmt es mich unbehaglich, dass es Junas sein könnte, oder vielleicht sogar der Tätowierte der Vater ist. Das würde nicht nur heißen, dass Juna hetero ist (oder bi, aber die Chancen sind da eher gering), sondern auch, dass sie vergeben ist. Nicht, dass ich mir irgendwelche Hoffnungen gemacht habe. Doch mit diesen Tatschen wäre es selbst durch ein Wunder nicht möglich, dass sie auf mich aufmerksam wird.

„Ist alles gut?", will Arlo wissen und verwirrt mich damit, dass er plötzlich wieder Deutsch spricht. „Warum denn nicht?", frage ich ihn, bemüht zu lächeln und drücke seine kleine weiche Hand. „Du sahst ein bisschen traurig aus." Mein Bruder schaut vorsichtig zu mir hoch. „Wir wollten uns doch nichts verschweigen." Kurz zögere ich, dann nicke ich seufzend. „Ich bin nicht richtig traurig, aber ich finde jemanden toll und glaube, dass sie unerreichbar ist." Ich beiße mir auf die Lippen, da ich mich gerade halb unbeabsichtigt geoutet habe. „Oh, du findest ein Mädchen toll! Wie schön", freut sich mein kleiner Bruder. „Schön?", harke ich verdutzt nach. Meiner Meinung nach ist die Sexualität nichts, was wertbar ist. Sie ist weder gut noch schlecht, sie ist einfach.

„Ja! Silas hat mir erzählt, dass es sehr schön ist, wenn Jungs nicht nur Mädchen toll finden und Mädchen nicht nur Jungs. Er hat gesagt, dass dann alles viel bunter und lustiger ist!" Ich muss bei seiner Beschreibung grinsen, komme aber nicht dazu, einen Kommentar abzugeben, da Arlo direkt weiterredet. „Aber er hat auch gesagt, dass man sich das nicht aussuchen kann. Und dass man das auch erst weiß, wenn man älter ist. Aber was mache ich denn, wenn ich später nur Mädchen toll finde? Ich will nicht, dass mein Leben langweilig wird!" Ich bleibe an einer roten Ampel stehen und sehe meinen Bruder ernst an.

„Silas hat total recht, wenn er sagt, dass man es sich nicht aussuchen kann, wen man toll findet. Und er hat auch recht damit, dass es schön ist, wenn ich zum Beispiel ein Mädchen toll finde. Aber das liegt daran, dass es Liebe ist, und nicht daran, dass es zwei Mädchen sind. Weißt du, Liebe kann immer wunderschön sein, egal, zwischen wem sie ist und welches Geschlecht diese Personen haben. Du kannst ein aufregendes und schönes Leben führen, egal, ob du Mädchen oder Jungs oder beides toll findest", erkläre ich ihm. Arlo zwinkert, was bedeutet, dass er intensiv nachdenkt.

„Okay", meint er schließlich. Die Ampel wird grün. „Magst du nur Mädchen oder auch Jungs?", will er dann wissen. Ich lächle leicht. „Nur Mädchen." Arlo nickt noch einmal. „Cool." Ich nicke ebenfalls. Ja, schon. Aber nicht, wenn es deinen Crush nicht einmal interessiert, dass du existierst.

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