7.2 - Juna

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„Junchen!" Mein Vater kommt in die Küche getanzt und gibt mir einen dicken Schmatzer auf die Stirn. Mittlerweile frage ich mich gar nicht mehr, was er genommen hat, da ich verstanden habe, dass er schlicht und einfach einen an der Waffel hat. So wie jeder in dieser Familie. Wahrscheinlich mag ich uns deshalb alle so gern. „Hm?", mache ich und blicke von den YouTube-Kommentaren auf. Bis gerade habe ich noch die Stille genossen, denn ich war alleine in der Küche. Vivica ist bereits in der Schule, Keanu bringt gerade Silas zur Kita und Kian pennt noch, da wir heute Nacht bis nach zwei Uhr beobachtet haben, wie unsere EP ankommt.

„Und, gefällt es den Leuten?", will Papa wissen, wobei er sich einen Kaffee einschenkt. Ein leichtes Lächeln schleicht sich auf meine Lippen. „Ich glaube schon. Die Reaktionen sind, abgesehen von den üblichen Hatern, echt richtig gut", erzähle ich. Dann werfe ich einen letzten Blick auf mein Display, auf welchem ich gerade die Flut der Kommentare eines unserer erstens Fans aufgerufen hatte. Mein Favorit ist Oh wow, dieses Cover! Ich liebe es so sehr, ich will es an meine Wand hängen und auf einem Pulli tragen!! Der User nennte sich thegreatgabsby und schreibt uns schon seit Monaten auf YouTube sowie Instagram meist als einer der ersten Hörer neu herausgebrachter Musik. Zu Beginn konnten wir es kaum glauben, dass uns tatsächlich jemand für unsere Kunst so sehr bewundert, doch irgendwie gehört thegreatgabsby schon zu uns dazu.

„Das freut mich", strahlt mein Vater, welcher sich mir gegenüber niederlässt. „Ihr habt es euch auch sowas von verdient", findet er. „Cata hat übrigens gefragt, ob sie heute Abend auch zu eurer Release-Party vorbeikommen kann", fügt er dann hinzu. „Klar", nicke ich. Obwohl es ja keine richtige Feier wird, immerhin wollen wir auch ein paar Fragen beantworten. „Cool, dann schreib ich ihr gleich zurück. Was hältst du von einem Listen-Update?"

Eine Minute später versucht er angestrengt, sich an seine verschiedenen One-Night-Stands zu erinnern, da wir die Liste aus irgendeinem Grund die letzte Zeit ein wenig vernachlässigt haben. „Also, wir haben hier als letzte Kandidaten Ayaz, Jax und Malina", frische ich sein Gedächtnis ein wenig auf. Die Mutter von Vivi war letzte Woche doch noch einmal bei uns gewesen, doch so langsam scheint auch mein Vater kein Fan mehr davon zu sein, dass sie sich weniger für ihre Tochter als fürs Vögeln interessiert. Zumindest meinte er, dass Malina uns erst einmal nur noch wegen Vivica besuchen sollte. Wie oft dies dann in der Realität wirklich vorkommen wird, bliebt abzuwarten.

„Ach, richtig, dann war da noch Nuria", fällt ihm ein. Mir schwebt ebenfalls ein Bild von einer äußerst hübschen Frau vor Augen, doch den Punktzahlen nach zu urteilen ist ihr Aussehen auch ihre größte Qualität. Wieder einmal fällt mir auf, wie wenig ich es eigentlich mag, Menschen derartig zu werten, doch unsere Liste ist nun mal der graue Fleck in meinem moralischen Verständnis.

„Davor war noch Pit, aber das ist ja nichts geworden und ich glaube, das war auch gut so", rekapituliert Papa die Situation mit dem schmächtigen Idioten im Flur. „War da nicht noch diese eine, die so standardmäßig schön war?", überlege ich. Irgendwie klingt das, als hätte ich einen hohen Anspruch, aber die Realität ist, dass ich meist Frauen, die irgendwie besonders sind, viel attraktiver finde als solche, die zu hundert Prozent dem gesellschaftlichen Schönheitsideal entsprechen. Kurz taucht Isla in meinen Gedanken auf, weshalb ich mich schnell wieder auf meinen Vater konzentriere. „Stimmt, wie hieß die noch? ... Irgendwas... genau, Tina!", grinst er. Ich notiere den Namen in einer neuen Spalte, ehe ich erwartungsvoll meinen Kopf hebe. „Tina war echt krass im Bett, dafür, dass sie so 08/15 aussah", erzählt Papa. Nachdem wir alle Kategorien durchgegangen sind, fällt mir auf, dass sie tatsächlich ziemlich abgesahnt hat. Doch natürlich kommt sie lange nicht an den Typen heran, welcher meinem Vater fast ein bisschen den Kopf verdreht hat.

„Sag mal... hattest du eigentlich noch einmal mit Jax Kontakt?", erkundige ich mich beiläufig nach einem Blick auf die Liste. Mein Gegenüber bekommt beinahe ein wenig rote Wangen, als er vorsichtig nickt. „Tatsächlich kommt der heute Abend vorbei", murmelt er. Ich hebe eine Augenbraue, da er normalerweise, abgesehen von Malina, nie mehrmals mit den gleichen Menschen schläft. „Ich weiß, dass eure Party ist, aber er kommt auch spät, also sollte das passen", rechtfertigt sich mein Vater. Ich nicke, auch, wenn ich eigentlich was anderes gemeint habe.

„Ach übrigens schläft Arlo von Samstag auf Sonntag noch mal hier, weil Isla auf einer Party ist", wechsle ich dann das Thema. „Okay. Und du gehst mit?" Papa lächelt mich warm an, sodass ich weiß, dass er mich keinesfalls unter Druck setzen möchte. Ich zucke mit den Schultern. „Weiß ich noch nicht", antworte ich leise. Er blickt mich für einen Moment wortlos an, dann nickt er. „Okay. Aber ich glaube, es wäre schön für dich", tut er dann seine Meinung kund. Dabei steht er auf, um die Liste wegzubringen. Dass dies höchste Zeit war, wird uns klar, als kurz darauf Keanus „Halloo!" aus dem Flur erklingt. Offensichtlich ist er von der Kita zurück. Irgendwie bin ich recht erleichtert, dass er diesen Job heute übernommen hat, was aber auch nur möglich war, weil er die ersten beiden Stunden frei hat.

Mein Vater und mein bunthaariger Halbbruder kommen zeitgleich zurück in die Küche. Ich lächle beide leicht an. Irgendwie ist es lustig, dass Keanu noch einmal ein ganzes Stück größer als Papa ist. „Ich hab Isla getroffen bei der Kita", informiert der Jüngere mich, indessen er sich auf einen der Küchenstühle fallen lässt. „Cool...?", mache ich fragend. Er grinst mich an. „Sie hat mich gebeten, dir noch einmal nahezulegen, dass du morgen mit ihr auf diese Party gehst", berichtet er weiter. „Juna! Sie will mit dir zusammen dahin gehen?", ruft mein Vater. Ich vergrabe mein Gesicht in meinen Händen, damit keiner der beiden mein Grinsen sehen kann. „Vielleicht?", nuschle ich. „Dann ist es ja wohl geritzt, dass du mitgehst!", findet Papa und auch Keanu macht zustimmende Geräusche. „Hm", entgegne ich. „Nichts hm", kontert mein Bruder entschieden. „Ja, okay! Ich schreib ihr gleich!", versichere ich den beiden Nervensägen, verschweige jedoch, dass mir das Herz dabei bis zum Hals klopft. 

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