2.3 - Juna

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In meinem Seminar sitzt zu meiner Verwunderung die Asiatin. Ich hasse es, Leute nach irgendwelchen Kriterien zu benennen, die nichts mit ihrem Charakter zu tun haben. Das ist genauso wie „ach der Schwule" oder „die, deren Vater die Steuern hinterzogen hat". Ich will nicht so jemand sein. Aber dafür müsste ich ihren Namen wissen... Oder ich gebe ihr einfach einen. Genau, das mache ich. Schließlich scheine ich sie irgendwie öfter zu sehen, als mir zuvor aufgefallen ist.

Die erste Hälfte des eigentlich spannenden Seminars über Nationalismus, Patriotismus und dessen Entstehung verbringe ich also damit, mir einen Namen für sie zu überlegen. Schließlich entscheide ich mich für Meadow, also Wiese. So richtig weiß ich nicht, warum. Vielleicht, weil sie genauso viel von einer bunten Blumenwiese hat wie von einer weiten, seicht hügeligen, ruhigen Graslandschaft mit vereinzelten Bäumen.

Meadow sieht zumindest ziemlich müde aus. Immer wieder fallen ihr die Augen halb zu, doch sie scheint bemüht, aufzupassen. Dem Ziel wende ich mich für den Rest des Seminars auch zu. Ich notiere mir sogar ein paar wirklich interessante Stichpunkte, was für mich ziemlich ungewöhnlich ist. Aber das Thema fasziniert mich nun mal. Gut, der ganze Studiengang fasziniert mich. Ich bin unfassbar froh, dass mein Vater uns in allem unterstützt, was wir machen wollen – ob es lukrativ scheint oder nicht. Er glaubt an uns.

Vielleicht hätte ich nicht derartig gut von meinem Studium denken sollen, den im darauffolgenden Seminar schlafe ich fast ein. Es wird von einem dieser Professoren gehalten, die ein eigentlich spannendes Thema so unfassbar langweilig vermitteln, dass es selbst mich nicht mehr begeistern kann.

Glücklicherweise kann ich nach dem einschläfernden Vortrag nach Hause fahren. Als ich mein Fahrrad abschließe, sehe ich Kian auf die Eingangstür zukommen. „Hey", begrüße ich ihn und öffne die Haustür in die große Wohnung, da er offensichtlich Einkäufe mit sich trägt. „Na", lächelt er. Zusammen räumen wir schnell ein, was er nach seiner Schicht im Supermarkt besorgt hat. Gleichzeitig machen wir uns schnell Nudeln mit einer Tomatensoße aus dem Glas, da die anderen heute in der Schule beziehungsweise auf der Arbeit essen. „Wollen wir ins Studio, bis Abholzeit ist?", schlägt Kian vor. „Liebend gern", nicke ich, indessen ich meinen Teller auskratze. „Nice. Hab heut Nacht irgendwie nen Beat gebaut." Mein bester Freund grinst mich schief an, als wir unser Geschirr in die Spülmaschine räumen.

„Du Nachteule. Wehe, du schläfst heut wieder so wenig", ermahne ich ihn. Kian ist oft so sehr in seiner Kunst vertieft, dass er banale Dinge wie essen und schlafen einfach vergisst. Würde er komplett alleine wohnen, wäre er wahrscheinlich nur ein Skelett. Aber dadurch, dass er so gut kochen kann, verlangt unsere verrückte Familie zwangsläufig nach seiner Anwesenheit um die Mahlzeiten herum.

Auf der Treppe ins Souterrain stelle ich auf meinem Handy einen Timer, damit wir nicht verpassen, Silas abzuholen. Doch sobald wir vom Flur aus die schwere Metalltür des ehemaligen Luftschutzbunkers öffnen, gerät das Mobilteil in Vergessenheit. Kian drückt die Tür hinter uns wieder zu und mit einem Mal existieren nur noch wir beide, die Instrumente, der Rechner, die Boxen, Mikrofone, Mischpulte und Schalldämpfer.

Ich lasse mich mit einem leichten Lächeln auf einen der zwei Stühle vor den Monitoren fallen. „Dann hau mal raus", bitte ich Kian, mir seinen Beat zu zeigen. Mit geschlossenen Augen und wippendem Fuß lasse ich diesen auf mich einwirken. „Ich finde, er passt super zu dem einen Text, den wir letztens geschrieben haben. Weißt du, der gegen die Rollenbilder." Mein tätowierter bester Freund nickt nachdenklich und so sinken wir in eine ziemlich produktive Blase. Zumindest so lange, bis mein Handy quakt und mir damit Bescheid gibt, dass ich meinen jüngsten Bruder abholen gehen muss.

Mit Silas an der Hand betrete ich eine Weile später die große Wohnung. „Hallo?", rufe ich verhalten. Im Gegensatz zu meinen kleineren Geschwistern bin ich keine besonders laute Person. „Hey!", kommt es da auch schon dreifach zurück. Verwundert hebe ich meine Augenbrauen. Hinter Silas steige ich die Treppe in den ersten Stock hoch. Dort stelle ich fest, dass sowohl Keanu als auch Vivica von der Schule nach Hause gekommen sind. Während unser Nesthäkchen laut „Vivi! Lass uns Pferde malen!" krakeelt und im Zimmer unserer Schwester verschwindet, drücke ich die angelehnte Tür von Keanu auf.

„Hey." Sein Blick fliegt für einen Augenblick von seinem Laptop zu mir, dann wendet er sich wieder seinem Videospiel zu. „Heyhey", murmelt er ziemlich konzentriert zurück. Grinsend schüttel ich den Kopf, bevor ich kurz zu Vivi ins Zimmer trete. Dort hängen meine beiden Kleinen schon über einem großen Blatt Papier und malen eifrig. „Hey, Vivi. War die Schule gut?" „Jep", gibt die Angesprochene nur kurz wieder. „Da fehlt ein Bein, Silas! Ein Pferd hat doch vier Beine!" Leise verziehe ich mich auch aus diesem Zimmer. Scheinbar sind alle meine Geschwister bestens beschäftigt, weshalb ich die Treppe wieder nach unten gehe, um mich der dritten Stimme zu widmen. „Papa?"

„Hier!", erklingt aus seinem Raum die Antwort, weshalb ich direkt links abbiege und durch seine Zimmertür trete. „Hey meine Süße." Mein Papa legt behutsam ein offenbar neu ausgedrucktes Foto sowie die Magneten auf seinem Bett ab, um auf mich zuzukommen. Behutsam nimmt er mich in den Arm und drückt mir einen Kuss ins Haar. „Wie gehts dir? Wie war die Uni?" „Beides gut", nuschle ich in sein Shirt, dann drücke ich ihn sanft von mir. „Schön, das freut mich." Er strahlt mich noch einmal an, dann nimmt er das Foto wieder zur Hand. Nachdenklich hält er es an unterschiedliche Stellen seiner magnetischen Wand. „Da." „Wo?" Er dreht sich fragend zu mir um. „Wo's eben war. Neben dem mit dem Meer im Hintergrund."

Mein Papa hängt die Bilder, auf die er besonders stolz ist, immer an seine Wand. Ich finde das ziemlich süß und gleichzeitig gemütlich, da es schon immer so war und seinem Raum einfach diese ganz besondere Note gibt. Mit einem Lächeln lasse ich mich auf seinen Schreibtischstuhl sinken. Während mein Vater ein paar Schritte zurückgeht und seine Wand betrachtet, suche ich aus dem Schubfach unter der Holzplatte nach unserer Liste.

„Wie hieß nochmal der Bär von gestern?", will ich wissen. Papa lacht leise. Einen Moment später steht er hinter mir und schielt über meine Schulter auf das Blatt Papier. „Ayaz." Ich trage den Namen in die erste Spalte ein, dann drehe ich mich samt des (ziemlich coolen) Drehstuhls zu ihm um. „Küsse?" Er überlegt kurz. „Joa. 6 von 10." „Fähigkeiten seiner Hände?" „Uh, mindestens 'ne 8. Ja, doch, 'ne 8."

Während ich einen Punkt nach dem anderen abfrage, trage ich die Antworten meines Vaters fein säuberlich in die Liste ein. Objektiv betrachtet sind wir ganz schön menschenverachtend. Allerdings haben wir vor ein paar Jahren nur damit angefangen, weil Papa sich darüber beschwert hat, dass er sich teilweise schon nach ein paar Tagen nicht mehr an seine Besucher erinnern kann. Aus Spaß habe ich dann eine solche Liste vorgeschlagen, welche wir dann ebenfalls aus Spaß angefangen haben zu führen. Mittlerweile ist es zu einer festen Gewohnheit geworden. Das heißt aber trotzdem nicht, dass wir die Personen an sich werten. Zudem haben wir uns geschworen, dass niemals jemand außer uns beiden von dieser Liste erfahren wird. (Nicht einmal Kian weiß davon.)

Trotzdem ist mein Gewissen dieser Sache gegenüber nicht das allerbeste und ich weiß, dass es Papa da nicht anders geht. Aber wir haben einfach zu viel Spaß an diesem kleinen Geheimnis. Außerdem fördert es nicht nur Papas Erinnerungsvermögen, sondern auch unsere besondere Vater-Tochter-Beziehung, die man aufgrund unseres eher geringen Altersunterschied schon beinahe als freundschaftlich bezeichnen kann. Und ganz im Ernst, mit seinen Freunden würde man auch über sein Sexleben reden und die verschiedenen Personen untereinander vergleichen. Wir führen dafür nur eben unsere kleine Liste. (Was heißt klein. Sie ist schon ziemlich viele beidseitig beschriebene Seiten lang.)

Später gehen Papa und ich zusammen Fahrrad fahren, nachdem wir uns noch einmal versichert haben, dass es den drei Chaoten oben und Kian unten gut geht. Befreit sause ich vor ihm über den Deich. Heute ist kaum Wind, weshalb wir gut voran kommen. Zudem haben wir in der letzten Zeit auch ordentlich trainiert. Immerhin ist die Triathlon-Saison nicht mehr lange hin. 

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