3.3 - Juna

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Der Weg verlief mehr als schweigsam, zumindest zwischen Isla und mir. Silas und Arlo waren fröhlich plappernd voraus gelaufen, ganz aufgeregt darüber, dass sie bald noch mehr Zeit miteinander verbringen würden. Dagegen hing zwischen uns großen Schwestern eine graue unangenehme Stille, die sich keiner von uns zu brechen traute.

Aus diesem Grund bin ich erleichtert, als ich die Haustür aufschließen kann. Silas brüllt „Hallooo" in den Flur und will schon ins Wohnzimmer laufen. „Stopp, erst Schuhe ausziehen", erinnere ich ihn. Mein kleiner Bruder grinst mich entschuldigend an, weshalb ich nicht anders kann, als ein wenig zurück zu lächeln. Kaum spüre ich jedoch Islas Blick dabei auf mir, setze ich von selbst diesen etwas abweisenden Gesichtsausdruck auf.

„Also", beginne ich, nachdem ich mich nervös geräuspert habe. „Hier in der großen Wohnung wohnen Silas, mein Papa und meine anderen zwei Halbgeschwister. Ich hab ganz oben ne kleine Wohnung und der Halbbruder von Keanu wohnt im Souterrain." „Warte, was?", unterbricht Isla mich. Ich seufze leise, da unsere Familienkonstellation nicht die einfachste ist. „Okay. Ich bin die älteste Tochter von meinem Papa, dann kommt Keanu, dann Vivica, dann Silas. Wir haben alle unterschiedliche Mütter und die von Keanu hatte halt schon vorher einen Sohn, das ist Kian. Der wohnt unten", versuche ich erneut mit der Erklärung. Diesmal scheint sie es verstanden zu haben, denn sie nickt.

„Gut, dann führ ich dich eben durchs Haus", murmel ich. Isla folgt mir still, während ich ihr kurz die Küche zeige. Dann nicke ich zur Zimmertür meines Vaters, indessen ich „Hier wohnt Papa" sage, ehe ich auf die Treppe deute. „Da sind die Zimmer von den Kindern und nen Bad." Schließlich drücke ich die Tür zum Wohnzimmer auf, aus dem bereits fröhliches Geplapper erklingt.

„Hey!", ruft Keanu mir zu, der gerade gegen Silas und Arlo eine Kissenschlacht veranstaltet. Vivica hockt mit einem Buch neben Kian auf dem Sofa, welcher jetzt aufsteht. „Hi", grüßt er Isla, ehe er mich kurz in den Arm nimmt. „Was..?", murmelt er mir nur ins Ohr. Ich nicke verstehend, als er sich wieder von mir löst. „Arlo kommt ab jetzt zwei Nachmittage die Woche zu uns", erzähle ich ohne weitere Erklärungen. Kian sieht einmal zwischen Isla und mir hin und her, dann lässt er sich wieder auf die Couch fallen.

„Wollt ihr euch nicht auch setzen?" Ich werfe meiner Kommilitonin einen Blick zu, welche interessiert das Geschehen betrachtet. „Wir wollen eigentlich gleich wieder los", wiegt sie ab. „Wann ist Arlo denn dann hier?", fragt er weiter. Insgeheim bin ich erleichtert darüber, dass er das Reden übernimmt. Kian ist zwar auch nicht die gesprächigste Person, allerdings kann er zumindest mit Fremden kommunizieren. Zudem weiß er genau, dass für mich eine einzige solcher Fragen einen ganzen Kampf mit meinem Inneren darstellt. Wahrscheinlich kann er sehen, wie überfordert ich allein damit bin, einen halben Meter neben einer unbekannten Person zu stehen.

„Wie es euch passt! Ich richte mich ganz nach euch, ist ja allein schon nett, dass Arlo hier sein darf", sprudelt es aus Meadow heraus. „Ja, sollen wir gleich morgen anfangen oder erst nächste Woche? Montag muss ich nur Vormittags arbeiten und die anderen sind auch hier", schlägt Kian vor. „Ich hab Montags doch Training!", ruft Vivica dazwischen, ehe Isla antworten kann. Ich werfe ihr einen mahnenden Blick zu, den sie jedoch nur unschuldig grinsend erwidert. Sie weiß ganz genau, dass man Gäste zu Wort kommen lässt.

„Stimmt, Vivi ist beim Bogenschießen. Wir können aber auch direkt morgen anfangen, dann kannst du ein bisschen runterkommen. Was meinst du?" Kian lächelt Isla freundlich an. „Sehr gern, wenn das wirklich kein Problem ist. Dann kann ich auch alles mit meinem Chef besprechen und so", gibt diese, sichtlich dankbar, wieder. „Ich würd ja an deiner Stelle nicht direkt so viel arbeiten, sondern erst mal chillen. Also no offence, aber du siehst echt fertig aus", zwinkert Keanu ihr zu, welcher sich augenscheinlich aus der Kissenschlacht herausgezogen hat. Silas und Arlo werfen sich schreiend nun gegenseitig ab, wobei mein Halbbruder beim Ausholen leicht einen Bilderrahmen an der Wand trifft.

„Silas, Arlo! Etwas ruhiger!", bittet Kian mit freundlicher, aber bestimmter Stimme. „Tschuldigung!", kichern die beiden und machen, mit minimal gedrosselter Energie, weiter. Isla wirft uns einen entschuldigenden Blick zu, ehe sie sich Keanu zuwendet. „Juna hat mir auch schon gesagt, dass ich scheiße aussehe, also wäre das vielleicht gar nicht so ne schlechte Idee..." Sie zuckt mit den Schultern, indessen ich mich wieder schlecht fühle. Aus diesem Grund spreche ich normalerweise nicht mit Menschen. Die Gefahr, jemanden zu verletzen oder zu beleidigen, obwohl ich das eigentlich nicht will, aber mich einfach nicht gut genug ausdrücken kann, ist zu hoch.

„Juna!", macht Kenau leicht anklagend, grinst aber dabei. „Charmant wie eh und je", fügt Kian, lächelnd mit dem Kopf schüttelnd, hinzu. „Wenigstens hat sie ein paar Wörter rausgebracht", fällt mein bunthaariger Bruder wieder ein. „Keanu!" Nun ist Kian derjenige, der seinem Halbbruder einen mahnenden Blick zuwirft, während Vivica lacht. Meine Geschwister – die Monster in Person. Zum Glück sind es ziemlich liebeswerte Monster. Trotzdem brumme ich Keanu ein leises „Fuck off" zu, damit es weder die Kleineren, noch Isla hört. Letzteres scheint jedoch nicht geklappt zu haben, da meine Kommilitonin mit ein klitzekleines wissendes Lächeln zuwirft. Wie sie mir noch positiv gestimmt sein kann, ist mir ein Rätsel, nachdem ich nicht nur sie, sondern auch meinen Bruder beleidigt habe. Aber das soll mich nicht stören.

„Wir wollen euch dann auch nicht länger aufhalten", gibt sie nach einem kurzen Augenblick wieder, in dem man nur das Lachen und Schreien der kleinen Jungs gehört hat. „Ach, alles gut", winkt Keanu ab, der sein Necken mir gegenüber wohl wieder gut machen will. „Nein, wir gehen dann jetzt. Aber wirklich, vielen, vielen Dank." Sie lächelt uns der Reihe nach an, wobei mir auffällt, dass sie schon ein kleines bisschen entspannter aussieht.

Ein paar Stunden später, nachdem ich mit Papa joggen war, wir alle zusammen zu Abend gegessen und die Kinder ins Bett gebracht haben, sitzen Kian, Papa und ich auf der Couch. Gegenseitig berichten wir uns von unserem Tag, wobei natürlich auch unser Besuch zur Sprache kommt. Wie erwartet, hat mein Vater nichts dagegen und bietet sogar an, auch mal auf die beiden Jungs aufzupassen, wenn er früher nach Hause kommt.

„Aber wie kommt es, dass du ihr das angeboten hast, Juna? Wie seid ihr überhaupt ins Gespräch gekommen?", erkundigt er sich interessiert. Ich seufze. „Ich bin klischeemäßig in sie reingelaufen und habe dann meine allerbeste Glanzleistung in Konversation gezeigt", erkläre ich sarkastisch. Ein Mundwinkel meines Vaters wandern leicht nach oben, während er versucht, ernst zu bleiben. „Was hast du gesagt?" Noch einmal seufze ich, bevor ich den ungefähren Wortlaut des Gesprächs mitsamt meines übermäßig freundlichen Kompliments wiedergebe.

„Das klingt wirklich nach einer Glanzleistung. Aber hey, zumindest hast du ganze Sätze formuliert!", versucht Papa, etwas Positives zu sehen. „Joa, mehr oder minder", nicke ich wage. Kian neben mir stupst mich aufmunternd mit dem Knie an. „Genau", lächelt er leise. Aus diesem Grund heben sich meine Mundwinkel ebenfalls ein bisschen. Diese beiden Männer sind einfach meine comfort zone.

Das Klingeln der Tür unterbricht unser angenehmes, einträchtiges Schweigen. „Das wird Jax sein. Der ist so heiß, er würde euch auch gefallen", lacht Papa, indessen er aufsteht und zur Tür geht. Kian und ich tauschen einen Blick aus. Wir sind beide bi-curious (bezogen auf Männer, da wir eigentlich auf Frauen stehen). Wir können uns also optimal über unsere Crushes austauschen oder darüber, ob wir es wohl nice finden würden, jemandem einen Blowjob zu geben. Allerdings ist es in der Praxis noch nie vorgekommen, dass einer von uns was mit nem Typen hatte.

Die Stimme aus dem Flur klingt tatsächlich ziemlich angenehm und mein Vater hört sich sogar so an, als sei er ein klein wenig verlegen. Mein bester Freund und ich lehnen uns also neugierig nach links, sodass wir, ohne aufzustehen, durch die halboffene Wohnzimmertür schauen können. Es muss ziemlich lustig aussehen und mein Vater scheint auch besorgt, dass wir zu auffällig sind, doch dieser Jax hat nur Augen für ihn, weshalb er unser Starren nicht bemerkt. Allerdings sieht er wirklich ziemlich gut (und auch ziemlich nett) aus, weshalb wir beide ein beeindrucktes Gesicht machen. Papa zeigt uns nach einem leichten Grinsen über die Schulter seines One Night Stands einen Mittelfinger, als die beiden an der Tür vorbei sind und wir nur noch eine nach hinten gestreckte Hand sehen können. Wir warten, bis das Geräusch der sich schließenden Zimmertür erklingt, dann lachen wir leise los. 

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