1.5 - Isla

728 56 16
                                    

Entgegen meiner Erwartungen verläuft das Wochenende ziemlich gut. Natürlich ist es anstrengend, aber so langsam stellt sich mein Schlafrhythmus auf den eines Kindes um. Außerdem schmeckte meine Gemüse-Reis-Kreation gar nicht mal so schlecht. Mit ein paar Tipps von Caras Cousine, Arlos Spielen und seinen eigenen Ideen geht die Zeit sogar recht schnell um. Das einzige Problem ist, dass ich weder gearbeitet noch etwas für die Uni gemacht habe. Neben meinen ungelesenen Uni-Texten sammeln sich bei mir also auch Minusstunden an.

Am Sonntagabend frage ich Arlo, ob es für ihn in Ordnung wäre, wenn ich ihn am Montag eine Stunde später von der Kita abholen würde. Mein kleiner Bruder macht ein nicht allzu begeistertes Gesicht. „Silas wird immer schon kurz vor mir abgeholt und dann wäre ich ja die ganze Stunde allein", erklärt er mir und blickt unsicher zu mir hoch. „Hast du noch keine anderen Freunde gefunden?", erkundige ich mich behutsam. „Naja, ich kenne die schon, aber... mit ihnen macht alles gar nicht so viel Spaß wie mit Silas!" Ich seufze. „Okay. Ich versuche dich um die gleiche Uhrzeit wie sonst abzuholen, aber vielleicht komme ich eine Viertelstunde später. Ja?", schlage ich einen Kompromiss vor. „Okay", nickt er gnädig, wenn auch nicht gerade fröhlich.

Zum Glück beginnt mein Seminar am Montag schon um neun, weshalb ich um kurz vor elf im Café sein kann. Schnell binde ich mir die Schürze um, begrüße meinen Chef und stelle mich hinter den alten Holztresen, dessen Farbe nicht vernünftig abgebeizt ist, sodass hier und da noch ein paar weiße Flecken zu sehen sind. Einen Text, den ich schon lange für die Uni hätte lesen müssen, verstaue ich in dem kleinen Fach unter der Platte.

Zu Beginn ist es noch relativ ruhig. Ab und an kommt ein Kunde, der einen Kaffee oder ein Croissant haben möchte. Nur wenige Personen setzen sich hin, weshalb ich einiges in meinem Text schaffe. Gegen 12 wird es jedoch etwas voller, denn wir werden gefühlt gerade von einem Geheimtipp zu einem immer beliebteren Lokal. Das Café liegt in einem etwas alternativen Stadtteil und alles, was wir verkaufen, ist Bio, vegan und Fairtrade. Natürlich haben die Getränke und Küchlein deshalb auch ihren Preis, der allerdings meiner Meinung nach durch das besondere Ambiente wieder wettgemacht wird: Die alten Möbel sind zusammengewürfelt, Pflanzen und Kerzen zieren jeden Tisch und den Tresen. Auch in einem Regal, in dem ein paar Bücher stehen, tummeln sich Pflanzen. Die Wand ziert eine leicht abgeranzte alte Blümchen-Tapete, die aber gerade noch so gut erhalten ist, dass sie einen gemütlichen Flair verbreitet. In den breiten Fensterbänken liegen Kissen, in einem drei Stufen erhöht liegenden Bereich steht sogar ein altes Eisenbett, auf dem ebenfalls Unmengen an Kissen verteilt sind.

Als ich gegen halb eins gerade eine Kundin abkassiere, wobei ich ihr den Bon per Mail zusende, da wir so Papier sparen, betreten zwei neue Kunden den Laden. An sich nichts besonderes, doch als die junge Frau vor mir zur Seite tritt, erkenne ich meine heiße Kommilitonin und einen mir unbekannten Typen, der nicht nur auf seinen Händen, sondern auch im Gesicht Tattoos hat. Der Rest seiner Haut ist von Kleidung bedeckt, allerdings schauen unter seiner rosanen Beanie noch ein paar ausgewaschene blaue Strähnen hervor. Mir geht auf, dass das wahrscheinlich der Typ ist, den der eine Idiot als Punk bezeichnet hat. (Ist er meiner Meinung nach nicht. Er hat einfach viele Tattoos, gefärbte Haare und trägt ebenso wie seine Begleitung vorwiegend dunkle Sachen. Allerdings nicht nur: Unter einem verwaschenen und ausgeleierten Beatles-Shirt trägt er ein lila-weiß-geringeltes Langarmoberteil.)

Die beiden setzen sich an einen Tisch in der Ecke und werfen einen Blick in die Karte. Ungeduldig warte ich, dass einer von ihnen aufsteht, da man bei uns immer am Tresen bestellt und später bezahlt. Insgeheim hoffe ich natürlich, dass ich gleich von Nahem einen Blick in diese giftgrünen Augen werfen darf, indessen ich versuche, beschäftigt auszusehen. Schließlich erklingt tatsächlich ein Räuspern, doch zu meiner grenzenlosen Enttäuschung steht der Tätowierte vor mir. Trotzdem setze ich ein nettes Lächeln auf. „Na, entschieden?", will ich wissen. Er lächelt etwas zurückhaltend und sieht dabei mehr als niedlich aus. Wäre ich nur ansatzweise an Typen interessiert, fände ich ihn bestimmt toll. (Falls mein Crush mit ihm zusammen ist, kann ich sie also fast verstehen.)

„Ich hätte gern zwei von diesen Erdbeerküchlein, einen Kurkuma Chai und einen grünen Tee", bestellt er mit einer leisen, unfassbar tiefen Stimme. „Was für ein Tee solls denn sein? Wir haben Sencha, Gunpowder, oder einen Oolong", zähle ich auf. Der Typ hebt langsam seine Schultern, dann dreht er sich um. „Juna? Sencha, Gunpowder oder Oolong?" Juna. Sie heißt Juna. Oder ist das ein Spitzname, eine Abkürzung? Oder ein Kosename? Vielleicht bedeutet er irgendetwas?

„Sie möchte Sencha." Ich fokussiere mich wieder auf Juna's Begleitung. „Alles klar. Ich bring euch das, ist ja grad nicht so viel los." Lüge, ich will einfach nur in ihre Nähe kommen. Er lächelt dankbar, bevor er sich umdreht und sich wieder an den Tisch setzt. Zu Juna. Indessen ich die Getränke zubereite und die Küchlein auf kleine, unterschiedlich bunte, alte Teller verfrachte, werfe ich ab und an einen Blick zu den beiden. Zwischen ihnen liegt ein Collegeblock, auf dem der Typ immer mal wieder etwas schreibt, vorüber sie rege diskutieren. Dabei sind sie jedoch so ruhig und leise, dass ich kein Wort verstehen kann.

„Entschuldigung?", werde ich aus meinen stalkerhaften Beobachtungen gerissen. „Ja, bitte?" „Wo ist denn hier die Toilette?" „Einmal die Stufen hoch und dann links in die kleine Tür", gebe ich Auskunft. Die Kundin nickt dankend, ich stelle den Kram für die Zwei auf ein kleines Holztablett, um es rüberzubringen.

„So, bitteschön. Tee habe ich vor ner halben Minute reingemacht. Lasst es euch schmecken." Ich stelle die Tassen und Teller vorsichtig um den Collegeblock herum und lächle beide einmal an. Juna schaut nicht mal hoch. Ich drehe mich um und beiße mir auf die Lippen.

Ein einziges Mal in der ganzen Stunde, die noch vergeht, bis ich losmuss, streifen mich diese giftgrünen Augen. Als ich ihren Blick festhalten will, senkt sie erneut den Kopf auf diesen ominösen Collegeblock. Scheint ganz so, als hätte sie nicht ansatzweise Interesse an mir. Immerhin weiß ich jetzt ihren Namen.

Um viertel vor zwei gehe ich nach hinten, um mich umzuziehen, meinen Kram zu holen und meinem Chef Bescheid zu geben, dass ich jetzt gehe. Er winkt mir lächelnd zu, wobei er von seinem Schreibtischstuhl aufsteht und sich selbst eine Schürze überwirft. „Machs gut." Er drückt mir eine Papiertüte in die Hand, in der in unschwer eines der Küchlein ertasten kann. „Hier, für den Kleinen." „Danke", gebe ich gerührt zurück. (Eigentlich macht er sowas nicht. Unser Deal ist, dass ich soviel Kaffee trinken kann, wie ich will und die Essenssachen für den halben Preis bekomme. Irgendwie muss sich der kleine Laden ja auch halten. Umso süßer finde ich seine Aktion.) Er grinst mir noch einmal zu, ehe er mich aus dem Laden scheucht. „Los jetzt, sonst kommst du noch zu spät." 

adore youWo Geschichten leben. Entdecke jetzt