2.2 - Juna

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Kurz nach dem Abendessen bringt Papa Silas ins Bett, während Keanu und Vivica den Tisch abdecken. Ich helfe ihnen beim Aufräumen, indem ich die Essensreste in eine Tupperbox fülle. Papa wird sie morgen mit zur Arbeit nehmen, falls er es nicht vergisst. Selbst dann wird es auf jeden Fall gegessen. In dieser Familie wird nichts schlecht.

Meine kleine Schwester überredet Kian dazu, noch etwas mit ihr zu lesen. Keanu wirft in dem Moment, wo die beiden die Küche verlassen, sein Matheheft vor mir auf den Tisch. „Ey, weißt du noch, wie sowas geht?" Ich starre auf sein Gekritzel. „Hast du mal euer Buch? Deine Sauklaue kann ja keiner lesen." Mein Halbbruder grinst und schmeißt das Buch über sein Heft. „Junge, sei vorsichtig, oder willst du das bezahlen müssen?", grummel ich.

Geld ist bei uns nicht das allerbeste Thema. Papa ist Modefotograf (wo er nebenbei bemerkt meist seine heißen One Night Stands kennenlernt) und verdient zusammen mit den Unterhaltszahlungen, die die Mütter meiner jüngeren Geschwister glücklicherweise immer zahlen, gerade genug, um halbwegs sorglos zu leben. (Meine Mutter dagegen ist nach meiner Geburt untergetaucht. Gut, sie war damals ebenso wie mein Vater auch erst 16, aber sie hätte wenigstens mit Papa einen Namen vereinbaren können, bevor sie mich ihm in den Arm gedrückt hat. Scheinbar war ich ihr allerdings nicht mal dafür wichtig genug. Aber egal, ich habe die beste Familie, die es gibt.) Außerdem jobbt Kian in einem Supermarkt um die Ecke, auch wenn das für seine 26 Jahre nicht das richtige scheint. Aber er hat sein Leben eben der Kunst gewidmet.

„Juna?" Keanu hat sich auf dem Stuhl neben mir niedergelassen und seinen Ellenbogen in meine Seite gerammt. „Hm?" Ich wende ihm meinen Kopf zu. „Alles klar?" „Ja, sicher." Wenn ich über so etwas rede, dann mit Kian. Oder selten mit Papa. (Sehr selten.)

Keanu nickt skeptisch, aber er weiß genau, dass ich nur grantig werden würde, wenn er weiter nachbohrt. „Aufgabe 3", sagt er also nur, weshalb ich meinen Blick wieder auf das Mathebuch richte. „Hast du mal diese Grund-Logarithmus-Formel?" „Ähh..." Er zieht das Heft unter dem Buch hervor und blättert ein paar Seiten zurück. „Die?" „Hmhm", mache ich bestätigend.

Nachdem wir die Aufgabe zusammen gelöst haben, klingelt es. Keanu schreibt gerade seinen Antwortsatz (besser gesagt, er schmiert ihn hin, aber seiner Lehrerin sind diese sehr wichtig), weshalb ich aufstehe. Vor der Tür steht ein großer, breiter Typ mit dunkler Bart- und Handbehaarung. Mit seinen dunklen Augen sieht er aus wie ein riesiger Teddybär. „Ähm... ich wollte zu Mika...?" Er lächelt mich verwirrt an. Ich nicke wortlos und öffne die Tür weiter, um ihn eintreten zu lassen. Ich habe nichts gegen die Menschen, mit denen mein Vater schläft, wirklich nicht. Ich bin nur einfach nicht fähig, mit Leuten außerhalb meiner Familie eine Konversation zu führen.

Zu meinem Glück taucht mein Vater hinter mir im Flur auf, als der Bär gerade seine Jacke an unsere Garderobe hängt. „Ah, Ayaz. Schön, dass du da bist." Mein Dad lächelt seinen Besuch kurz an, dann wendet er sich mir zu. „Schickst du Keanu bitte nach oben? Und stell bitte sicher, dass bei Vivi und Silas das Licht aus ist, ja?" Er drückt mir einen Kuss auf die Schläfe. „Mach ich", nicke ich heiser. Kann der Typ nicht woanders hingucken als zu mir? Bitte? „Danke, Süße. Mach dir nen schönen Abend und schlaf dann später gut." Er schenkt mir noch ein letztes liebevolles Lächeln. „Du dir auch", grinse ich leise. Mein Vater lacht in sich hinein, dann wendet er sich dem Riesen zu. „Mein Zimmer ist da hinten."

Nach dem ich Keanu in sein Zimmer gebracht (und ihn ermahnt habe, nicht mehr so lang am Handy zu hängen – aber was mache ich mir vor), treffe ich im Flur auf Kian. „Silas schläft, bei Vivi ist auch schon alles ruhig", murmelt er. Ich lächle ihn an. „Danke", wispere ich. „Gern. Möchtest du noch mit runterkommen?" Er legt mir einen Arm um die Schultern. Zusammen gehen wir die Treppe herunter. „Heut nicht, glaub ich. Muss noch nen Text zuende lesen und hab morgen um halb neun Seminar." „Alles klar." Wir bleiben in dem schmalen Flur stehen, von dem aus wir zu unseren Wohnungen kommen. Einen Augenblick starren wir uns in der halben Dunkelheit wortlos an, dann lehne ich mich an ihn. Indessen ich meine Augen schließe, schlinge ich meine Arme um seinen Rücken. Nicht oft, aber doch ab und zu, brauche auch ich mal eine ruhige Umarmung. Und die von Kian sind die besten.

Schließlich löse ich mich dann doch von meinem besten Freund, hauche ihm einen Kuss auf die Wange und trete dann auf die Treppe zu. „Gute Nacht. Hab dich lieb", flüstert er, um die Ruhe nicht zu zerstören. „Ich dich auch."

Am nächsten Morgen habe ich kaum Zeit, weshalb ich in meiner Küche etwas Kleines frühstücke. Mit dem Rad fahre ich zur Uni, wobei mir einfällt, dass Papa und ich ja heute trainieren wollten. Mal sehen, worauf wir Lust haben. Ich wäre für Radfahren oder Laufen. Das Wetter ist heute so schön trocken, da muss ich nicht unbedingt in die Schwimmhalle.

Schon bei den Fahrradständern spüre ich die Blicke auf mir. Ich habe mittlerweile verstanden, dass ich objektiv betrachtet gut aussehe. Ich selbst mag meinen Körper schließlich auch. Trotzdem bin ich nicht der größte Fan davon, angegafft zu werden. Immerhin kann ich mittlerweile die aufgegeilten von den wirklich bewundernden Blicken unterscheiden. Daraus erschließt sich dann auch meine Reaktion, wenn mich jemand trotz meiner abweisenden Haltung anspricht: Backpfeife oder Mittelfinger.

Manchmal tut es mir ein klein wenig leid. Oder nein, das ist vielleicht übertrieben. Sagen wir eher, dass ich mich manchmal unwohl damit fühle, mich so asozial zu verhalten. Allerdings kann ich es einfach nicht besser. Ich finde alle Menschen komisch, die ich nicht schon mein Leben lang kenne – oder eben so lang, wie meine Geschwister alt sind. Selbst mit ihren jeweiligen Müttern brauchte ich meine Zeit, um mit ihnen warm zu werden. Tatsächlich verstehe ich mich auch mit der Mutter von Kian und Keanu am besten, dagegen habe ich zu der von Silas kaum einen Drat. Bei Vivicas Mutter ist es so ein Mittelding. Also korreliert die Enge der Beziehungen zu meinen Stiefmüttern mit dem Alter deren Kinder, auch wenn ich sagen muss, dass alle drei wirklich tolle Menschen sind.

„Heut mal wieder nen Pulli von deinem Boyfriend?" Ich ignoriere den Kommentar gekonnt. Schließlich habe ich Übung. Tatsächlich gehören all meine Oversized Sachen mir, außer einem einzigen Pulli. Er ist schwarz (Überraschung) und hat einen verschlungenen Print auf der Vorderseite. Diesen hat Kian mal gezeichnet und dann selbst auf einen seiner Pullis gedruckt. Danach fand er es aber seltsam, mit seiner eigenen Kunst herumzulaufen, weshalb er den Pulli kurzerhand mir geschenkt hat. Ich liebe ihn. (Den Pulli. Kian natürlich auch, brüderlich halt.)

Obwohl ich es gewohnt bin, regen mich Sprüche wie diese innerlich auf. Ich bin der festen Überzeugung, dass weder ich noch irgendjemand anderes sich dafür rechtfertigen muss, was mensch trägt. Warum sollte ich nur große Pullis tragen dürfen, wenn diese meinem nicht existierenden Freund gehören würden? Allgemein sind doch diese geschlechtsspezifischen Kleidungsnormen für den Müll. Ich habe ähnlich viele Teile aus der Männerabteilung wie aus der Frauenabteilung. Nicht nur Shirts und Hoodies, sondern auch Hosen und Caps. Es interessiert mich nicht ansatzweise, solange mir die Stücke gefallen. Genauso wenig, oder eher noch weniger (was kaum möglich ist) hat es auch andere Leute zu interessieren. Das ist wie mit dem Bodyshaming. Haltet einfach die Fresse, solange man euch nicht nach eurer Meinung fragt. Und dies ist mehr als selten der Fall. 

adore youWo Geschichten leben. Entdecke jetzt