4.5 - Isla

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Als ich am Freitag nach der Vorlesung wieder zu Hause ankomme, atme ich als allererstes mit geschlossenen Augen ganz tief durch. Ich habe den ganzen Tag für mich. Ich kann mich entspannen, schlafen, malen. Was ich will.

Mit einem Lächeln im Gesicht werfe ich meinen Rucksack in mein Zimmer, nachdem ich die Tiefkühlpizza, die ich eben auf dem Rückweg besorgt habe, herausgenommen habe. Diese lege ich in den Gefrierer, freue mich aber schon riesig, endlich mal wieder meiner normalen studentischen Ernährung zu folgen.

Kurz überlege ich, zu putzen, entscheide mich dann jedoch dagegen. Bei meinem Erschöpfungslevel wäre es wahrscheinlich wirklich klug, dem Rat von Junas bunthaarigem Bruder zu folgen und den ganzen Nachmittag wirklich nur Dinge für mich zu machen. Außerdem hat Arlo an dem Spiel 'Möbel streicheln' Gefallen gefunden, bei dem man mit einem Staubtuch vorsichtig alle Möbel abwischen muss, ohne ihnen wehzutun. Deshalb werde ich einfach demnächst mit ihm zusammen putzen.

So schlüpfe ich in meine Jogginghose und lasse mich erstmal auf mein Bett fallen. Eine ganze Weile hänge ich auf Instagram ab, um mir Beiträge über das aktuelle Geschehen und Harry Styles Memes anzugucken – eine gesunde Mischung. Dann lasse ich mich aus meinem Bett rollen, schiebe meine Pizza in den Ofen und tanze singend während des Wartens zu Harrys Musik ein wenig durch die Küche. Dabei ist es mir egal, dass meine Nachbarn wahrscheinlich denken, ich würde einen schreienden Schwan bei mir beherbergen.

Den Nachmittag über verbringe ich mit malen, Musik hören, Videos gucken und schlafen. Ich denke weder an die Uni, noch an die Arbeit oder an die Verantwortung, die ich für Arlo habe. Nicht einmal die nicht so prickelnde Situation mit Juna drängt sich oft in meine Gedanken. Irgendwie schaffe ich es wirklich, abzuschalten. Und es tut mir verdammt gut.

So fühle ich mich ziemlich ausgeruht, als es früher Abend wird. Summend ziehe ich mir wieder meine schwarze Jeans an, trage etwas neues Glitzer auf meine Wangen auf und stecke dann ein paar Farben aufgrund meines Versprechens gegenüber Silas in meine Hosentasche. Ich muss ganz ehrlich zugeben, dass ich das Grün nur mitnehme, da ich überzeugt bin, dass es gut zu Junas Augen passen würde.

Tatsächlich freut sich der neue beste Freund meines kleinen Bruders ziemlich über das Glitzer. Die beiden Jungs stehen gerade im Flur vor dem Spiegel, als ich all meinen Mut zusammenkratze und meine hübsche grünäugige Kommilitonin frage, ob sie auch Glitzer im Gesicht haben möchte. Natürlich ist der Vorschlag ziemlich eigennützig. Nicht nur, weil sie damit wahrscheinlich noch schöner aussehen würde – wobei das kaum möglich ist, obwohl sie heute eher Sachen trägt, als wolle sie sich verstecken. Aus diesem Grund bin ich mir auch nicht so sicher, ob sie mein Angebot nicht ausschlagen würde. Aber ich würde sie wirklich gern berühren, was auch der zweite eigennützige Grund ist.

Zu meinem grenzenlosen Glück und auch Erstaunen stimmt sie meiner Idee zu. Mein Herz klopft aufgeregt, als ich einen vorsichtigen Schritt näher an sie trete. Ich hoffe sie bemerkt nicht, wie zärtlich meine Berührungen gemeint sind. Glücklicherweise kann ich mich gerade noch zusammenreißen, ihr nicht diese eine verirrte Haarsträhne hinters Ohr zu streichen oder ihre Gesichtskonturen sanft nachzufahren. Doch ein Kompliment kann ich mir nicht verkneifen, als ich entgegen meinem eigentlichen Willen wieder einen Schritt zurück trete.

„Wie lustig wäre es, wenn du sie geküsst hättest?", lacht Cara, als ich beim spät abendlichen Videotelefonat an dieser Stelle beim Erzählen angekommen bin. „Was?", mache ich geschockt, muss aber ebenfalls grinsen. „Ziemlich lustig", stimmt ihr Freund zu. „Nein! Gabe, ich dachte, du bist auf meiner Seite", mache ich gespielt entsetzt und greife mir theatralisch ans Herz. Der Dunkelhaarige lacht. „Für dich wäre es vielleicht schön oooder peinlich gewesen, für uns tatsächlich einfach nur witzig, sorry Süße", grinst mein bester Kumpel. „Pfff", mache ich. „Stellt euch vor, sie hätte mir eine gescheuert! Die Kinder standen doch im Flur, was hätten die dann gedacht? Außerdem habe ich echt keine Lust auf so ein Du bist ja ganz nett, aber ich mag dich nicht so-Gespräch", wiegel ich ab.

In Wahrheit macht es mich schon ganz kribbelig, allein über diese Möglichkeit nachzudenken. So oft habe ich mir schon ausgemalt, wie es wäre, Juna zu küssen. Ob ihre Lippen weich oder rau sind, ob sie sanft oder wild küsst, was ich mit meinen Händen mache – und was sie mit ihren macht. Etliche Male habe ich mir verschiedene Situationen vorgestellt. Manchmal habe ich sogar davon geträumt, doch in manchen Träumen hat sie mich auch ganz nach ihrer Art abgewiesen – was in der Realität wahrscheinlich am realistischsten wäre.

„Isla? Hallo, Erde an Isla!", machen sich meine Freunde über mich lustig. „Äh... ich bin doch da", gebe ich schnell zurück. Cara verschluckt sich vor Lachen, weshalb Gabriel ihr ordentlich auf den Rücken klopft. „Eigentlich warst du komplett am Tagträumen", widerspricht er mir dabei mit einem lieben Lächeln, weshalb ich ertappt schmolle.

„Himmel, du Idiot, willst du mir den Rücken brechen?", röchelt meine beste Freundin nun. „Wirklich, sei mal sanfter zu ihr", falle ich rasch ein, um von mir abzulenken. „Weißt du, manchmal mag sie es auch weniger sanft", haut ihr Freund daraufhin raus, ohne mit der Wimper zu zucken. „Gabriel Lorenzo Torres!", schreit Cara. Nun bin ich diejenige, die beginnt, zu lachen. Es sieht wirklich niedlich aus, wie sie zuerst auf die Brust ihres Freundes einschlägt, ihn dann jedoch am Nacken ruckartig zu sich zieht, um ihn zu küssen.

„Ahhh, bitte kein Hetero-Porn, meine armen Augen!", witzel ich, als die beiden nicht aufhören, sich abzuknutschen. Glücklicherweise scheinen sie mich gehört zu haben, denn sie lösen sich wieder voneinander, um mich entschuldigend anzugrinsen. „Du Arme, tut mir echt leid für deine Gaybie-Augen", gibt Gabriel gespielt mitfühlend zurück. Glucksend verschränke ich die Arme. Es ist schon ziemlich lang her, dass er dieses Wort erfunden hat, da er 'du Homo' oder 'Lesbe' einfach nicht mochte. Ich muss zugeben, ebenfalls von keiner der beiden Bezeichnungen ein Fan zu sein, dafür mag ich seinen Spitznamen umso mehr.

„Wenn ihr dann fertig geflirtet habt, willst du dann erzählen, was sonst noch passiert ist?", schlägt Cara vor. Ich weiß genau, dass sie nicht ernsthaft eifersüchtig ist. Dafür ist sie einerseits nicht der Mensch und andererseits weiß sie, dass sie uns beiden zu 300% vertrauen kann – zumal es schon sehr seltsam wäre, wenn ich was mit nem Typen anfangen würde. Viel eher könnte Gabriel sich Gedanken machen, da wir uns einmal aus Versehen geküsst haben, als wir uns gleichzeitig jeweils einen Kuss auf die Wange drücken wollten. Allerdings fanden wir alle drei die Situation ziemlich lustig.

„Die ganze Familie ist mit einem Mal aufgetaucht und sie wollten alle Glitzer", erzähle ich grinsend. „Kann ich verstehen", lacht Gabriel leise. „Und dann wollte ihr Vater unbedingt, dass wir alle zusammen ein Foto machen. Aber mehr ist nicht passiert", fasse ich zusammen. „Das will ich sehen!", ruft meine beste Freundin. „Das Foto? Das hab ich gar nicht", entschuldige ich mich schulterzuckend. „Dann frag sie halt, ob sie es dir schickt! Ich bin voll gespannt, wie ihre ganze Familie so aussieht", plappert sie aufgeregt. „Ähm... ich habe ihre Nummer gar nicht", gebe ich zu. „Oh!", macht Cara überrascht und weiß offensichtlich nicht, was sie nun dazu sagen soll. „Aber... wie sprichst du das dann mit den Kindern ab?", wundert sich Gabriel. „Bisher haben wir es immer abgemacht, wenn wir uns gesehen haben... und ich rede auch eher mit Kian, weil Juna meistens nichts sagt", kläre ich die beiden auf.

„Ach ja, stimmt", seufzt Cara. „Man, Maus. Du bist ein bisschen traurig, dass euch selbst diese Situation nicht näherbringt, oder?", fragt sie mitfühlend. Ich zucke mit den Schultern, doch dann nicke ich. „Schon", gebe ich leiser zu. „Es wäre halt ne gute Gelegenheit gewesen, irgendwie", nuschle ich. „Ihr seht euch ja noch öfter, vielleicht wird es ja noch besser", lächelt Gabriel aufmunternd. „Genau", macht seine Freundin zustimmend, weshalb ich die beiden hoffnungsvoll anlächle. „Danke, ihr Süßen", mache ich gerührt. „Ihr seid die besten Freunde der Welt." 

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