P R O L O G

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"München Hauptbahnhof Linie 6720 nach Grünwald."

Es würde keine Stunde mehr dauern bis ich dort ankommen würde, Grünwald. Immer wieder glitten meine Augen über das Ticket in meiner Hand, mehr als neun Stunden war ich bereits unterwegs und langsam machte sich die Müdigkeit bemerkbar. Meine Musik wurde lauter und ich versuchte mich irgendwie abzulenken um meine Augen vor dem zufallen zu bewahren. Die letzten Stunden schienen wie eine Leichtigkeit gegen die übergebliebenen  53 Minuten und ich war zu paranoid um mir etwas schlaf zu gönnen. Viel zu groß die Angst irgendwo im nirgendwo aufzuwachen, auch wenn meine Station meines Wissens die letzte war.
Jeremy hatte sich immer darüber amüsiert, dass ich ihn Bus und Bahn keine Ruhe finden konnte aus genau diesem Grund. Er war auch die einzige Person die ich in Berlin zurück ließ um die es mir leid tat. Er war mein bester Freund seitdem ich in die Großstadt gezogen war und der Abschied fiel uns beiden schwer. Ich hatte ihn erst losgelassen als er mir zum zehnten Mal versichert hatte, den Kontakt mit mir trotz der Distanz zu halten.

Gelangweilt warf ich einen Blick auf mein Handy, doch nichts hatte sich geändert außer einer verstrichenen Minute. Keine neue Nachricht, nicht seitdem ich sie das letzte Mal überprüft hatte. Die aktuellste stammte von Joachim, alles klar ich werde da sein. wir können es kaum erwarten dich wieder zu sehen. Ich hatte ihm geschrieben als ich in meinen letzten Zug für heute gestiegen war, damit er wusste wann ich ankommen würde.
Wir können es kaum erwarten dich zu sehen.
Das mein Onkel sich freute mich nach langer Zeit wieder zusehen war deutlich spürbar. So oft hatten wir telefoniert, weil er sicher gehen wollte, dass alles perfekt war wenn ich ankommen würde. Das ich mich wohl fühlen würde, mich endlich wieder zuhause fühlen würde.
Egal was mich nun in Grünwald erwarten würde, er konnte nur eine Verbesserung sein. Bis vor kurzem hatte ich bei meiner Tante, der Schwester meine Mutter gelebt. Berlin war für viele ein Traum und eine wunderschöne Stadt. Für mich war sie schlicht und ergreifend zu groß, zu laut. Von einem kleinen Dorf in die Großstadt stellte sich als Albtraum heraus. Dies wieder rückgängig machen zu können ließ mich aufatmen.

Doch zum Haushalt Wessel gehörte nicht nur mein Onkel, sondern auch Leon und Marlon. Meine Cousins die ich in meinem Kindheit vergöttert hatte, waren genau wie ich älter geworden. Und der Kontakt mit ihnen bestand, doch es war etwas anderes sie nach Jahren wieder persönlich zu sehen, als hin und wieder eine Nachricht zu verschicken. 
Ich hatte es geliebt sie zu besuchen und mit ihnen zu spielen, allen voran natürlich Fußball. Der Sport welcher sich bei ihnen und ihren Freunden so festgesetzt hatte, während ich seit einer gefühlten Ewigkeit nicht mehr gespielt hatte. Zumindest nicht mehr so, dass es sich richtig anfühlte. Lediglich Jeremy hatte ich hin und wieder überzeugt bekommen etwas mit mir zu spielen. Doch es war kein Vergleich zu dem Fußball spielen von früher mit Leon und Marlon. Sie hatten dadurch so viele Abenteuer erlebt, während ich in Berlin versauerte. Nach Jahren hatte ich die Hoffnung aufgegeben, doch vor zwei Monaten erfuhr ich woran ich nicht mehr geglaubt hatte.
Ich durfte weg aus Berlin, weg von meiner Tante und zu ihnen.
Ich war aufgeregt und allen voran nervös. Die anfängliche Freude schwand immer mehr und so kurz vorm Ziel nahm die Dunkelheit meine Gedanken ein. Es war eine neue Stadt, eine neue Schule und  neue Menschen. Ich wusste meine Cousins hatten einen großen Freundeskreis, doch konnte ich dazu gehören? Marlon hatte fast nicht mehr aufgehört zukünftige Aktivitäten die mich mit einbeschlossen zu planen. Doch was wenn sie mich nicht mochten?
Sie tolerieren Leon auch, da werden sie dich sogar bevorzugen, hatte er lachend am Telefon behauptet. Auch nach all dieser Zeit ließ er nicht von dieser Behauptung ab. Als wir klein waren hörten wir immer die gleichen Aussagen.
Leon und Linea sind sich so ähnlich es ist schon gruselig. 
Viele  Eigenschaften teilte ich mit ihm und sein Vater nannte uns immer lachend verspätete Zwillinge, durch unsere Altersunterschied von zwei Jahren. Es war auch einer der Gründe weshalb wir oft aneinander gerieten. Er war stur, ich war sturer. Ich ignorierte Menschen die mich nervten, er hielt die bestrafende Stille länger aus. Ich hatte ein kurzes Temperament, er tendierte dazu Sachen aus Wut zu demolieren. Die Liste zog sich in die Länge und laut Joachim waren wir uns im Teenager Alter noch ähnlicher geworden. 
Früher ging es um unsere Spielzeuge, wer zuerst im Garten  oder der schnellere Läufer war. Doch wie würde es jetzt sein?
Marlons und meine Beziehung war ein ganz andere Fall. Er hatte immer die Rolle des perfekten großen Bruder für mich eingenommen. Marlon laß mir gute Nacht Geschichten vor, auch wenn er selbst noch nicht perfekt lesen konnte. Er baute mir Burgen aus Kissen und Decken weil ich es selbst nicht konnte. Hob mich hoch damit wir an die versteckten Süßigkeiten kamen.
Doch es waren beide die eine Woche Hausarrest bekamen weil sie einen Jungen schlugen der mich geärgert hatte. Beide schlichen mit mir in die Eisdiele um uns den verbotenen Nachtisch zu besorgen. Leon und Marlon waren damals wie meine besten Freund, jeder auf seine Art und Weise. Beide waren damals alles für mich gewesen, doch was würde ich tun wenn ich mich nicht mal mehr mit meinen eigenen Cousins verstand? Das letzte Mal stand ich mit neun Jahren vor ihnen, dass war mittlerweile achte Jahre her, Zeiten ändern sich.
Ich musste mir ein neues soziales Umfeld aufbauen, mich in dieser Stadt zurecht finden und-

Nächster Halt: Grünwald

Panisch starrte ich die leuchtende Anzeige über den Sitzen an, doch die Uhrzeit bestätigte es. Ich hatte fast 50 Minuten damit verbracht mir selbst Panik einzureden. Wenigstens musste ich mir das ganze nicht an einem Montag antun, kam mir dann in den Sinn und schmunzelte über meinen eigenen Gedanken. Während andere zumindest früh Morgens an einem Donnerstag in der Schule saßen, hatte ich das Glück freigestellt zu werden. In Bayern hatten die Frühlingsferien bereits angefangen, ganz im Gegensatz zu Berlin. Ich konnte in ein hoffentlich entspanntes verfrühtes Wochenende starten und hatte dann zwei Wochen Ferien bis die Schule losgehen würde. Ich hatte keine Zeit mehr mir weitere Gedanken zu machen, den mit einem Ruck kam der Zug zum stehen und mein Herz fast genauso, bevor es doppelt so schnell weiter schlug.

Linea. | die wilden Kerle ✔Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt