Gray
Das Erste, was ich zu hören bekomme, als ich die Wohnung betrete, ist die Frage, wo ich war.
Hektisch mit einer Schüssel Pizzateig in der Hand flitzt meine gestresste Mutter aus dem Wohnzimmer, indem sie immer das Kochen und das Fernsehen gleichzeitig erledigt.
»Bei Yasin. Archie wollte, dass ich mitkomme«, lüge ich und schlüpfe aus meinen warmen Schuhen. Meine klebrigen, nass geschwitzten Socken bleiben bei jedem Schritt Richtung Küche am kühlen Holzboden kleben.
Wie ich erwartet habe, sieht es in der Küche noch furchtbarer aus als vor meiner Abreise. Drei weitere Schüsseln und fünf Gläser türmen sich im Waschbecken. Der Geschirrspüler steht offen, doch keiner hat auch nur daran gedacht, ihn auszuräumen. Zwischen alten Verpackungsmüll vom Lieferservice und halb aufgegessenen, schimmeligen Joghurtbechern ruht Freckles und sieht mich aus müden Augen aus an.
»Hallo, alter Mann«, begrüße ich den Fettsack, den meine Mutter wagt, Hund zu nennen.
Er jault leise auf, doch als er versucht aufzustehen, merkt er dann doch, dass es ihm zu viel Anstrengung kostet und bleibt dann doch lieber liegen.
»Nett«, säusle ich und reiße die Kühlschranktür auf, um mir einen Saft herauszunehmen. »Bald kannst du dich nur noch herumrollen, du Fettwanz.«
»Sei nicht immer so gemein. Er ist auch nur ein Lebewesen«, schnauzt mich meine Mutter an. Sie betritt kopfschüttelt den Raum und stellt die Plastikschale ab, bevor sie sich die klebrigen Finger abwäscht. Dabei berührt sie einen Teller, der abrutscht und mit einem lauten Krach andere mit sich in den Absturz zieht.
»Scheiße«, flucht sie und sieht genervt auf den Mist hinab, den sie gerade fabriziert hat. »Wer ist mit dem Küchendienst dran?«
Grinsend drehe ich mich zu ihr um und lehne mich an die vollbeklebte Kühltruhe. »Du bist immer damit dran. Ich gehe dafür mit deinem vollgefressen Halbtoten Gassi.«
Sie zieht eine Augenbraue in die Höhe und mustert ihren kleinen Schatz. »Nicht ganz. Du ziehst ihn hinter dir her und fegst damit den Dreck vom Boden, während ich hart arbeite und diese Wohnung sauber halte, damit sich niemand von uns beiden schämen muss, wenn wir jemanden zu uns einladen.«
Ich sehe mich um, doch alles was ich auffinde, ist nur Müll und dreckige Besitztümer. »Ja, sehr beeindruckend. Deine Leistung sollte mit einem Preis belohnt werden.«
Sie verdreht hohnlächelnd die Augen und gibt mir einen heftigen Klatsch in die Seite, bevor sie ihren Hund vom Küchentisch hebt und in sein Körbchen daruntersetzt.
»Sei nicht immer so frech, Bübchen«, tadelt sie und gibt dem Köter ein kleines Stück Schweineohr.
Gierig saugt er es ein und verzerrt es laut schmatzend, um sich bei mir wahrscheinlich für seine bösen Spitznamen zu wehren.
»Wie war's bei Yasin?«, wechselt das Frauchen das Gesprächsthema geschickt, damit sie sich weiterhin von ihrer Arbeit drücken kann. »Wart ihr genug an der frischen Luft? Ich weiß ja, wie krank Archer immer aussieht. Der Junge muss öfter raus in die Sonne.«
Er verwendet den Namen Archer nicht mehr.
»Das ist Make-Up, Mom.«, erkläre ihr und kann mir ein Lachen nicht verkneifen. Sie wird es nie verstehen.
Als sich Archie dazu entschieden hat, den Koffer seiner Mutter zu stehlen und zum ersten Mal versucht hat sich zu schminken, durfte ich live dabei sein. Bis heute noch bewundere ich seine Ruhe und Gelassenheit, wenn er sich einen Eyelinerstrich zieht, sich die Augenringe mit roten Lippenstift und Eyeshadow stärker macht, sich Ketten ins Gesicht klebt und manchmal sogar sein Lächeln verlängert, indem er sich zwei Striche in die Mundwinkel malt.

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Rock me
General FictionGray Adler hatte sich seit dem Auszug seines Vaters geschworen, nie wieder Gitarre zu spielen, doch für immer kann er sein Versprechen nicht halten. Durch die Überredenskünste seines besten Freund zwingt er sich ein letztes Mal zu spielen und das be...