A

1K 88 96
                                    

Jesse

Überrascht öffne ich die Augen und ziehe die Finger aus meinem Mund, die sich auf der Suche nach meinem Piercing unhöflich an meine Schleimwände vorbeigezogen haben.

Enttäuschung kommt in mir auf, als ich realisiere, dass man mein Plan nicht aufgegangen ist. Meine Erwartungen wurden mit einem Knall erloschen. Er hat mich rejectet.

»Du bist gemein«, murmle ich und versuche mich wieder einigermaßen zu fangen. Der bittere Geschmack von stinkender Omaseife breitet sich auf meiner Zunge auf. Wir sollten neue Seife für die Toilette kaufen.

»Also entweder mag ich dich nicht oder ich bin tatsächlich so gemein wie du sagst«, lacht Gray begeistert und wischt sich meine Spucke an seiner Hose ab.

Nicht mögen. Wer könnte mich auch mögen, wenn ich mich nicht einmal selber leiden kann? Maske. Ich brauche meine Maske wieder, aber wohin habe ich sie gelegt?

Ich setze mich seufzend auf und nehme einen Zug von meiner Zigarette. Der Rausch flutet meine Lunge und breitet sich dort überall aus, bis es beginnt furchtbar zu schmerzen. Erst dann blase ich ihn wieder aus und betrachte ihm dabei, wie er gen Himmel steigt.

Der kleine Gitarrengott sieht dem Qualm sehnsüchtig nach und legt den Kopf etwas schief, als er verblast und nur noch die dunkle Nachtdecke zu sehen ist. Wie als hätte er den gleichen Gedanken wie ich. Das würde ich auch gerne tun.

Ruckartig senkt er den Blick wieder und sieht zu mir, als hätte er sich just in dem Moment daran erinnert, dass ich mich noch neben ihm befinde. Er lächelt mich süßlich an. Trotz der Dunkelheit erkenne ich das Grübchen auf seiner rechten Seite. Es liegt knapp neben dem Sternmuttermal auf seiner Wange.

»Wie lange rauchst du schon?«, fragt er mich interessiert, auch wenn ich mir nicht vorstellen kann, woher seine plötzliche Neugier kommt.

Ich überlege einen Moment, bevor ich wahrheitsgemäß antworte, »Seit neun Jahren.«

Ich drücke das halb gerauchte Tabakstangerl aus und werfe es weit von mir, damit ich nicht wieder auf die Idee komme, sie anzuzünden und zu Ende zu rauchen. Ich nehme mir vor, erst wieder Zuhause zu rauchen und ihn bis dahin nicht mit dem stinkenden Rauch zu belästigen.

Überrascht sieht der junge Mann zu mir hinüber. »Wirklich? Aber da warst du erst elf Jahre alt. Hast du dich nicht um ein paar Jahre verrechnet?«

»Leider nein«, sage ich bitter und wische mir die Hände an meiner Lederleggings ab.

Mit sieben habe ich zum ersten Mal Alkohol getrunken. Es war nur eine Frage der Zeit, dass ich als nächstes zu etwas härterem greifen würde. Bis heute bringt mich die Mische durch den Tag und wiegt mich nachts in den Schlaf.

»Das...tut mir leid«, murmelt der junge Gitarrenspieler und kratzt sich an dem stoppeligen Kinn.

Ein Lächeln schleicht sich zurück auf meine Lippen, als ich in sein nachdenkliches Gesicht blicke. Ich brauche ihn nicht zu fragen, um zu wissen, dass sich seine Gedanken um meine vergangenen Gründe kreisen.

Mein Bruder versteht bis heute nicht, warum ich damit angefangen habe. Im Gegensatz zu mir hat er eine starke Persönlichkeit. Ihm war es immer schon egal, ob andere Leute ihn mögen. Er hat getan, was er wollte und hat sich geweigert, Dinge zu tun, die ihm nicht gefallen, nur um dazuzugehören. Er braucht niemanden zum Leben. Er schafft alles allein und das schon seit seinem zweiten Lebensjahr. Er hatte auch nie jemanden, der ihm helfen konnte, aber genug Leute um sich, denen er helfen musste. Darunter auch ich.

Ich strecke meine Hand aus und packe damit Gray's Hoodiekragen. Ich richte ihn und zwinkere dem verwirrten Jungen zu.

»Ich war ein dummes Kind«, sage ich ehrlich. »Und jetzt bin ich ein dummer Erwachsener.«

Rock meWo Geschichten leben. Entdecke jetzt