A♭sus

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Jesse

Gray hat mich geküsst.

Ich kann an nichts anderes mehr denken.

Ich hetze über die Straße und mustere das Gebäude mit einem unguten Gefühl. Von dem Kuss und meinem Drang nach etwas mehr sollte ich meinem Bruder vorerst nichts erzählen.

Der Aufzug führt mich in den gewünschten Stock. Auch wenn ich am liebsten sofort wieder umdrehen und mich unter meine Bettdecke verkriechen möchte, um dort noch weiter über den betrunkenen Kuss nachzudenken, öffne ich die Bürotür und betrete den Raum.

»Was ist denn hier los?«, frage ich überrascht und betrachte die hässliche Unordnung. »Ist hier jemand eingebrochen?«

Owen sieht mich aus müden Augen aus an. Er wischt sich über das lange Gesicht und schüttelt sanft den Kopf. Seine Haare stehen in alle Richtungen und seine Kleidung hat Falten.

»Ich finde meine wichtigen Unterlagen nicht«, murmelt er erschöpft und stoßt auf. »Und einen verdammten Kater habe ich auch. Das ist mein erster Kater seit zwei Jahren.«

Grinsend schließe ich hinter mir die Tür und bücke mich, um ihm beim Aufräumen zu helfen. Es ist nicht auszuhalten in dieser Müllhalde. Summend drücke ich Stifte zurück in den schwarzen Becher, lege Papiere über Papiere auf einen Stapel zusammen und werfe den auf dem Boden verstreuten Müll in den Papierkorb neben dem Schreibtisch.

Owen verdreht die Augen und seufzt entnervt. »Wieso hast du so gute Laune? Zerkratzt dir kein felliges Vieh die Innenseiten deines Kopfes?«

Ich schüttle den Kopf und beiße mir auf die Zunge, um ihm ja nicht den Grund meiner guten Laune zu verraten. Manches muss man für sich behalten, um es richtig genießen zu können.

Der adrett gekleidete Mann nickt nur verständlich und massiert sich angestrengt sie Schläfen.

Ich halte den Mund ausschließlich, um mich nicht zu verblabbern, aber zum Teil auch, weil ich ihn mit lauten Geräusch nicht belästigen möchte. Da ich nie gelernt habe, leise zu sprechen, könnte uns ein Gespräch also zum Verhängnis werden.

Mein Bruder scheint es zu merken und bleibt genauso wortkarg. Er sortiert die Unterlagen, die ich ihm reiche und streicht sich immer wieder über das zerknitterte Hemd und durch die Vogelscheuchenfrisur.

Ich betrachte ihn im Augenwinkel, während ich mich auf das Sofa pflanze und mein Handy aus der engen Hose ziehe, dessen Gummirand sich schmerzhaft in meinen Unterleib drückt.

»Ich bestelle für uns Suppe«, erkläre ich dem jungen Mann, der sich unter dem Schreibtisch versteckt und dort wahrscheinlich gegen seine Probleme ankämpft. »Ich nehme an, mehr kann dein Magen sowieso nicht halten.«

Owen verzieht das Gesicht zu einer Grimasse und starrt mich wütend an. »Wir haben uns gestern bereits für Asiatisch entschieden, also bleiben wir auch dabei. Chinesisch, indisch, thailändisch oder koreanisch?«

»Japanisch klingt gut«, erkläre ich ihm begeistert. »Ich habe lange kein Maki mehr gegessen. Und wenn ich mich recht erinnern kann, mochtest du Nigiri sehr gern.«

»Mir ist gerade nicht nach rohem Fisch«, würgt Owen hervor und streichelt sich den Magen, um ihn wahrscheinlich zu beruhigen. Er sieht aus, als würde er sich am liebsten jetzt sofort übergeben wollen.

Ich seufze enttäuscht und lehne mich zurück. »Und wenn wir uns nur Reis bestellen?«

Mürrisch betrachtet er mich und schüttelt verweigernd den Kopf. »Nein. Wir heben jetzt unsere Hinterteile und betreten das erste Restaurant, dass uns in den Blick fällt. Auch wenn's länger braucht, als meine vorgeschrieben Lunchpause mir gibt.«

Rock meWo Geschichten leben. Entdecke jetzt