Jesse
»Wenn du Gray noch magst, solltest du es ihm vielleicht sagen«, sagt Owen und weckt damit meine Aufmerksamkeit.
Verwirrt sehe ich von meinem Essen auf und mustere ihn. Seit zehn Minuten hat keiner mehr von uns beiden gesprochen und nun kommt so etwas aus seinem Mund.
»Was?«, frage ich nach, weil ich mir nicht sicher bin, ob ich ihn richtig verstanden habe.
Er räuspert sich. »Ich glaube, er mag dich noch und wenn er dich so glücklich macht, wäre es vielleicht keine schlechte Idee, es nochmal zu versuchen. Jetzt wo euer Geheimnis ohnehin draußen ist, kann euch auch nichts so schnell wieder aufhalten, nicht wahr?«
Mit Gray sprechen? Ehrlich mit ihm zu sein? Es nochmal versuchen und dabei das Risiko einzugehen, dass er bei dem nächsten Streit wieder abhaut und hinschmeißt? So oft kann man eine Gitarre auch nicht reparieren. Mein Herz schon gar nicht.
»Er mag mich wahrscheinlich gar nicht mehr so«, murmle ich. Man verlässt niemanden, den man liebt, oder? »Und es ist okay so. Ich betrachte ihn einfach von der Ferne und bin glücklich damit, dass er für mich noch spielt. Nach all dem ist es nicht mehr selbstverständlich.«
»Du bist ein dummes Kind«, brummt Owen und klingt mal wieder säuerlich. »Ich kann nicht glauben, dass ich dich so erzogen habe. Wie kann es sein, dass ich mich allem stelle und du dich am liebsten versteckst?«
Grinsend knabbere ich an einem Chicken Wing. Leicht brennt die Sauce in meinem Mund. »Wir sind leider nicht blutsverwandt.«
Er seufzt. »Chesterfield, was hält dich davon ab? Euch steht endlich nichts mehr im Weg. Solltet ihr die Chance nicht nutzen und glücklich-«
Ich lege den leeren Knocken zur Seite und murmle, »Wenn er wieder geht, geht er dieses Mal vielleicht für immer und wir haben keinen Gitarristen mehr. Es ist zu riskant.«
»Liebe ist riskant, Chesterfield«, sagt er streng und reicht mir eine Serviette. Seit ich wieder mehr esse, bekomme ich stets das, was ich möchte. Egal, wie ungesund es auch ist. »Wenn du ihn liebst, musst du leider damit rechnen, dass es schlecht enden kann, aber du kannst der Liebe auch nicht ewig aus dem Weg gehen. Irgendwann musst du dich dem wieder stellen, also warum jetzt nicht?«
Ich soll den ersten Schritt machen? Das habe ich doch so oft gemacht und nun sind wir an den Punkt gekommen, an dem er mich sogar gehasst und verlassen hat. Das soll sich ja nie wieder wiederholen.
»Seit wann hast du eine Ahnung von der Liebe?«, scherze ich, um nicht noch weiter über seine Worte nachdenken zu müssen.
Er grummelt etwas vor sich hin, bevor er sich erhebt und zum großen Glasschrank im Wohnzimmer heranschreitet. Er sperrt den Glaskasten auf und holt eine dicke, pechschwarze Mappe heraus. Darauf kleben Autos und kitschige Schmetterlinge.
»Was machst du da?«, frage ich verwundert. »Was willst du mit meiner Mappe?«
»Dir etwas zeigen«, sagt er kühl. Er kommt mit der fetten Ansammlung zurück zu mir und legt sie in die Mitte des Tisches. Er blättert vorsichtig durch die Seiten.
Ich beuge mich vor, mustere Kinderfotos von Owen, Zach und mir, erkenne ein paar alte Zeichnungen, die ich damals gemacht habe und kneife die Augen zusammen, als auch ein paar ernste Dokumente auftauchen. Darunter der Vertrag, den Owen damals unterschrieben hat, um mein Erziehungsberechtigter zu werden und mich zu sich zu holen.
Er atmet erleichtert auf, als er die richtige Seite findet. Es ist eine Zeichnung, an die ich mich gar nicht erinnern kann. Darauf sind drei Jungs und zwei Erwachsene zu sehen. Sie stehen vor einem großen Haus. Daneben befindet sich ein See, drei Hunde, vier Katzen und sieben Hasen.
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Rock me
Ficção GeralGray Adler hatte sich seit dem Auszug seines Vaters geschworen, nie wieder Gitarre zu spielen, doch für immer kann er sein Versprechen nicht halten. Durch die Überredenskünste seines besten Freund zwingt er sich ein letztes Mal zu spielen und das be...