1: Die Lichtung

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Ein Knall. Dunkle Taubheit füllte meinen Kopf. Hartes Metall rieb an meiner Haut. Ein bitterer Geschmack nach Medikamenten lag auf meiner Zunge. Mühsam rappelte ich mich auf die Knie, als plötzlich der Boden unter mir erzitterte. Jetzt begann ich mich stetig nach oben zu bewegen, als ein schummriges Licht in meine Augen stach. Schon verschwand es wieder und das Nächste huschte an mir vorbei. Immer schneller raste ich mit ohrenbetäubendem Rattern nach oben und alle Alarmsignale in meinem Kopf schrillten unaufhörlich. Ich hatte keine Ahnung, wo ich war oder wie lange diese Fahrt noch andauerte. Mein Herz schlug laut und ich blickte nach unten, als das Gefährt wieder für eine kurze Sekunde erhellt wurde. Es war eine Art Käfig oder Gitter. "STOP", schrie ich panisch und meine eigene Stimme kam mir fremd vor. Plötzlich erschien ein rotes Licht über mir und beleuchtete eine Art Decke, auf die ich ohne langsamer zu werden zuraste. "Stop!", rief ich erneut und erhob mich, meine Finger krallten sich im Gitter zu meiner Rechten fest. Mit diesem Tempo würde ich nicht mehr anhalten können... Plötzlich gab es einen Ruck, mit dem ich zurück auf den Boden geschleudert wurde. Unsanft stieß ich meinen Kopf an etwas Kantigem, das ich zuvor noch nicht bemerkt hatte. Alles begann sich zu drehen und ich lehnte mich gegen die Wand des Käfigs, um klaren Kopf zu kriegen. Aus dem Nichts erlosch das rote Licht und wich einem Grünen. Dann wurde es wieder stockdunkel. Ängstlich riss ich die Augen so weit auf wie nur möglich um etwas erkennen zu können und hielt meine Hand an die Stelle, durch die der Schmerz wie in Wellen pulsierte. Etwas warmes, Klebriges rann meine Hand hinunter. "Na super", hallte meine Stimme in die Dunkelheit. Plötzlich rumpelte es erneut und als schon die Panik in mir hinaufkroch, dass es eventuell zurück nach unten gehen könnte, wurde die Decke gespalten. Helles Licht blendete mich für einen Augenblick, sodass ich mir den Arm über die Augen halten musste. Stimmen. Lachen. Ein Geruch nach Schweiß und Rauch. Mein Herz klopfte wie wild gegen meine Rippen. „Was siehst du Newt?", rief eine tiefe Stimme und ich zuckte panisch zusammen, als Jemand zu mir hinunter sprang und sich vor mir aufbaute. „Ein Mädchen?" Es war mehr eine Frage und er ging vor mir in die Hocke um mich besser sehen zu können. Er hatte haselnussbraune Augen und blonde Haare, die ihm bis zu den Ohren reichten. Der Junge schien um die 18, denn seine Stimme war tief und seine Schultern breit und muskulös. Beunruhigtes Gemurmel erklang überall um mich herum von etwas weiter oben und ängstlich wich ich vor ihm in die Ecke zurück. Wer wusste schon, was die mit mir vor hatten, geschweige denn wo ich war. „Ganz ruhig", meinte der Blonde und zog eine Augenbraue nach oben, bevor er sich wieder erhob. „Ziemlicher Wildfang" Ich wollte schon vorsichtig etwas Trotziges einwenden, als ein zweiter Junge hinunter gesprungen kam und auf mich zu stampfte. Er packte mich grob am Arm mit den Worten „Tag eins Frischling" und hob meinen Körper mit einer unerwarteten Leichtigkeit an. Ohne zu Keuchen warf er mich über seine Schulter, sprang aus dem Käfig und lies mich draußen auf den rissigen Erdboden fallen. Schon wurde ich umrundet von lauter Jungs, unter den kein einziges Mädchen zu sehen war. Vielleicht stellten sie mit den Mädchen hier irgendwas an. Vielleicht waren sie Kannibalen. Mein Herz klopfte und mein Kopf schmerzte, während mein Fluchtinstinkt die Oberhand ergriff. Nichts wie weg hier. Blitzschnell sprang ich auf die Füße, stieß zwei der Fremden zur Seite und rannte los was das Zeug hielt. Das Gegröle hinter mir wurde lauter, auch wenn ich mich weiter von ihnen entfernte. „Hey wir haben eine Läuferin", schallte es hinter mir und ich blickte mich für 1 Sekunde um, ein paar von ihnen hatten die Verfolgung aufgenommen. Voller Angst rannte ich auf eine breite spaltartige Öffnung in einer rund 50 m hohen Wand zu. Egal wohin sie führte, am Besten weg von hier. Ich hatte sie fast erreicht, als plötzlich zwei große Hände meine Taille packten und zurück rissen. „LASS MICH SOFORT LOS!" Ich schrie und kreischte und versuchte alles, um mich aus dem festen Griff zu winden. Ich trat und zwickte, biss und schlug um mich aber nichts half. „Ganz ruhig! Beruhig dich alter", erkannte ich die Stimme des blonden Jungen von vorhin der mich als Wildfang bezeichnet hatte. „Packt mal mit an!", rief er und sofort stürzten Vier andere zu uns und drückten mich hinunter in das vertrocknete Gras. „Lasst mich verdammt noch mal los", fauchte ich und versuchte, meinen Arm los zu reißen, den ein muskulöser älter aussehender Junge mit dunkler Haut gepackt hielt. „Okay beruhig dich wieder in Ordnung?", fragte eine Stimme über meinem Kopf und ich schloss die Augen um einen Fluchtplan zu entwerfen. Sie waren zu stark und viel zu Viele, um sie einfach abzuschütteln. Langsam entspannte ich meine Muskeln und es schien zu wirken. „Bist du jetzt ruhig?" Ich nickte und die Griffe lockerten sich, bis mich wieder Jemand an der Taille packte und auf die Beine stellte. Mit einem flüchtigen Blick nach hinten bemerkte ich, dass der Weg in die breite Spalte frei war. Rasch klopfte ich mir etwas Dreck von den Klamotten, um den Eindruck zu erwecken, ich wäre tatsächlich ruhig. Als ein Paar sich schon murmelnd abwandten, nutzte ich blitzschnell die Gelegenheit zur Flucht. Das Adrenalin rauschte unaufhaltsam durch meine Adern, als ich so schnell ich konnte den Spalt passierte und mich in eine riesige Art Gang beförderte. Sofort erklangen wütende Rufe nach mir und als ich mich umsah, bemerkte ich überrascht, dass mir keiner der Jungen gefolgt war. „Komm da sofort raus!", schrie der Blonde und warf wild gestikulierend die Arme in die Luft. Anscheinend war ich hier drin sicher, denn keiner schien sich hinein zu trauen. „Niemals!" Ich verschränkte herausfordernd die Arme. „Tu was er sagt" Der ältere Junge hob drohend einen Finger. „Die Tore schließen sich gleich" Die Tore?! Ich folgte seinem Blick zu den dicken Steinmauern zu meiner Rechten und Linken. Massiv und störrisch ragten sie bis hoch in den Himmel hinauf und es schien, als stünden sie schon seit einer Ewigkeit dort. „Ich gehe hier nicht weg" „Du wirst sterben" Ein anderer, etwas jüngerer Kerl sah mit großen Augen zu mir und ich schüttelte den Kopf, während ich noch zwei Schritte weiter von ihnen wegtrat. „Dann sterbe ich eben" Auch wenn ich keine Ahnung hatte, wo ich war, war ich doch der Annahme, dass ich hier sicherer war als dort drinnen bei Ihnen. „Komm jetzt sofort da raus oder es ist dein sicherer Tod Mädchen" „Warum was ist hier? Ich sehe nichts", antwortete ich frech und der Blick des Blonden richtete sich auf einmal hoffnungsvoll auf etwas hinter mir. Als ich mich umdrehte, war es allerdings schon zu spät und erneut packte man mich - doch dieses Mal so, dass ich mich nicht mehr befreien konnte. Ein paar Sekunden später wurde ich vor die Füße der Anderen geschmissen und wütend blickten sie alle auf mich herab. Ich wusste, das ich jetzt keine Chance mehr haben würde ihrem Zorn entgehen zu können. „Danke Mann", sagte der große Blonde und klatschte sich mit demjenigen ab, der mich hinaus getragen hatte. Er hatte schwarze kurze Haare, die schräg nach oben gestylt waren. Seine dunklen Augen funkelten triumphierend zu mir herab. Er trug ein blaues Shirt mit etwas darüber, das aussah wie eine Art Weste. In diesem Kleidungsstück befanden sich unglaublich viele Taschen, aus denen spitze glänzende Gegenstände ragten, die ich unverkennbar als Messer identifizierte. Ein Schauer rann meinen Rücken hinunter, während ich mich fragte, wofür er diese Ausrüstung wohl brauchte. Plötzlich erklang ein zorniges Donnern und wir legten die Köpfe in den Nacken um nach oben zu sehen. Dicke schwarze Wolken hatten sich vor die freundlich strahlende Sonne geschoben und löschten ihr Licht fast vollständig aus. Noch dazu knirschte es auf einmal laut hinter mir und erschrocken fuhr ich herum. Die Tore, wie sie genannt wurden, bewegten sich langsam kleine Steinchen zermalmend über den harten Betonboden aufeinander zu. Ein kräftiger Windstoß aus dem Gang hinaus zerzauste meine Haare, während der Abstand zwischen den Mauern sich verringerte. Ich hielt den Atem an, als sie nur noch einen Meter voneinander entfernt waren. Würden sie aufeinander prallen? Sanft schmiegte sich der Stein aneinander und für ein Moment kehrte Stille ein. Die Tore hatten sich geschlossen. Mein Herz raste und ich schluckte. Wo war ich hier nur gelandet? „So, jetzt ist Schluss" Mit diesen Worten riss mich der Blonde nach oben und packte meine Handgelenke, bevor er mich vor sich her von den Wänden wegstieß. Erst jetzt konnte ich einen gesamten Blick auf den Ort werfen: wir waren von vier Wänden umschlossen. Ein Wald drängte sich in der linken Ecke, während in der rechten Hütten und Unterstände gebaut waren. Sie waren nur provisorisch zusammengezimmert und mit Stroh abgedeckt. Ein paar Planen und große Leinentücher waren auf hohen dicken Stöcken aufgespannt, um Schutz vor Wind und Wetter zu bieten, was bestimmt eher zweitklassig funktionierte. Eben ließen wir einen kleinen klaren Teich hinter uns, an dem geräuschvoll Ziegen und Schweine weideten. „W-", begann ich, als in einer Reihe vor uns kreisrunde Öffnungen im Boden mit selbst gebauten Gittern aus Bambus auftauchten und ich wurde geradewegs darauf zugeschoben. „Halt die Klappe", knurrte der blonde Junge, bevor er sich über mich beugte und er begann das Seil zu lösen dass die Gitter verschloss. Sein markanter Duft nach Rauch und feuchten Gras schwebte in meine Nase und auf einmal inhalierte ich den fremden und doch anziehenden Geruch tief. Das Gitter sprang mit einem Knacken auf und noch bevor ich etwas sagen oder tun konnte, wurden meine Handgelenke losgelassen und er stieß mich grob in eines der ausgegrabenen Löcher. Ich fiel hart auf meine Knie und ein brennender Schmerz schoss durch meinen Körper. "Hey!" "Klappe" Mit diesen Worten stieß er das Gitter wieder zu und band es mit einem Seil in einem Anker, der im Boden steckte, fest. Noch immer auf meinen Knien beobachtete ich ihn. „Hey Kumpel, können wir mal sehen?" Mehrere Jungs traten hinter den Blonden und gingen vor dem Gitter, hinter dem ich kauerte, in die Hocke. Unbehaglich senkte ich den Kopf und schlang in einem Versuch, Blicke abzuschirmen meine Arme um mich. Als noch mehr erschienen um mich zu sehen, erhob sich der Blonde. „Geht gefälligst und sucht euch einen Unterstand sonst werdet ihr gleich klitschnass. Außerdem sind wir hier nicht im Zoo", mahnte er mit einem warnenden Tonfall zwei Jungs, die einfach nicht gehen wollten. Ein kleines Quäntchen Dankbarkeit für ihn flatterte kurz in meiner Brust. Als er sich abwandte, erhoben sich auch murrend die Anderen mit einem letzten Blick auf mich und verstreuten sich in unterschiedliche Richtungen, bis ich wieder alleine war. Erneut donnerte es und ein paar grelle Blitze durchzuckten die dunkle Kulisse, zu der sich die pechschwarzen Wolken aufgetürmt hatten. Erst setzte ein leichtes Nieseln ein, das zunächst normalem, dann prasselnd starkem Regen weichte. Schon nach kurzer Zeit waren meine Klamotten und Haare durchnässt, denn hier drin gab es keinen Möglichkeit, Schutz zu suchen. Erbarmungslos trommelten die harten Tropfen auf meine Haut. Meine Wunde am Kopf brannte höllisch und einsam drängte ich mich in die Ecke zurück und zog die Knie an, auf denen sich orangerote Schürfwunden tummelten. Als ich gezwungenermaßen die Zeit zum nachdenken fand, setzte mein Herz erneut für einen kurzen Moment aus. Es gab nichts, über das ich nachdenken konnte. Ich konnte mich an nichts außer den Situationen ab der Box erinnern. Keine Familie, keine Freunde, keine besondere Momente, NICHTS. Nicht einmal mein Name fiel mir wieder ein. Panik kroch in mir hoch. Ich hatte keinerlei Erinnerungen, doch die Grundlagen waren seltsamerweise da. Ich wusste wie man schrieb, wie man sprach und aß, was fünf mal hundert war, wie man Wäsche wusch oder Farbe herstellte: Alles wichtige war da. Nur keine Erinnerungen. Ich spürte, wie sich heiße Tränen ihren Weg aus meinen Augen bahnten und sich mit den Regentropfen, die über mein Gesicht liefen, vermischten. Langsam schlang ich meine Arme um die Knie und vergrub meinen Kopf in dem kleinen Zwischenraum, bevor ich die Augen schloss. „Ganz ruhig. Das wird schon wieder", nuschelte ich mir selbst Mut zu, aber die Gänsehaut, die den kalten Regentropfen auf meiner Haut folgte, machte jede Hoffnung zunichte. Ich saß an einem unbekannten Ort voller Fremder fest, die mich wie eine Aussätzige behandelten. Zugegeben ich machte es ihnen aber auch nicht leicht. Kurz huschte ein Grinsen über meine Lippen doch dieses Hochgefühl verschwand sofort wieder, mit dem bitteren Nachgeschmack schwarzer Leere. Der Regen prasselte immer härter, meine Wunden brannten höllisch, mein Magen knurrte. Um ehrlich zu sein, die Hoffnung auf irgendetwas Gutes lag nicht in Sicht. Allmählich begann es zu dämmern und die die Häuser in weiter Ferne an der gegenüberliegenden Mauer verschwanden in der Dunkelheit. Unaufhaltsam rann das eisige Wasser über meinen Körper und durchnässte meine Klamotten bis auf die Haut. Ich fror so sehr, das meine Zähne zu klappern begannen und eng kauerte ich mich zusammen, um keine Wärme entweichen zu lassen. Plötzlich erklangen hastige Schritte und in der nun fast durchdringenden Schwärze tauchte ein jungenhaftes Gesicht auf. Der blonde Jugendliche von vorhin ging vor den Gittern die Hocke und sah zu mir in die Ecke hinab. „Na?" Ich versenkte vollkommen desinteressiert meinen Kopf wieder in den Armen und wartete darauf, das er wieder verschwand. Das leise Knarzen des Gitters drang durch das durchdringende Rauschen des Regens. „Willst nich raus ins warme Trockene?" Ich rührte mich nicht. „Sicher? Sonst geh ich wieder" Ja genau geh wieder dort hin zurück woher du gekommen bist. Ein paar Sekunden war nichts außer dem lauten Prasseln des Regens zu hören und ich dachte schon, er wäre tatsächlich gegangen. Deshalb hob ich den Kopf und sofort fing er meinen Blick auf. Erschrocken entgleisten mir vor Überraschung kurz die Gesichtszüge. „Kommst jetzt oder nich? Letzte Chance nochmal frag ich nich" Noch immer zeigte ich keine Regung und schloss rasch die Augen, als etwas Wasser hineinrann. „Drei, zwei", begann er mich zu ermahnen und langsam verlockte er mich. „Eins" Die letzte Zahl zog er lang, um mir noch etwas Zeit zu geben und ich wurde immer schwächer. Mein Bauch knurrte laut und ich fror entsetzlich. „Wenn's nach mir ginge würdest du hier drin verrotten aber auch ich hab meine Befehle" Ein raues Schleifen, dann ein trockenes Knarzen. Etwas Schlamm spritzte auf, als er zu mir hinuntersprang. „Auf gehts" Seine zwei starken Arme schlangen sich um meinen Körper und hoben mich in die Luft, als wäre ich ein Fliegengewicht. Er setzte mich auf die Kante des Loches, bevor er sich selbst hinaufzog und mich erneut in seine Arme hob. Automatisch schlang ich meine Arme um seinen Nacken als er sich in Bewegung setzte. Für eine Millisekunde sah ich seine braunen Augen durch die Dunkelheit zu mir hinab blitzen und meine Haut begann auf der Stelle nervös zu prickeln. Als wir auf etwa der Hälfte des Weges waren, verlagerte er plötzlich sein Gewicht anders und erschrocken krallte ich eine meiner Hände in seinen Kragen. Sein leises verächtliches Lachen lies mich unbewusst erröten als ich mir klar wurde wie hilfsbedürftig ich ihm hier gerade erschien. Schon nach ein paar weiteren Sekunden, die ruhig ein bisschen länger hätten sein können, erreichten wir eine der etwas größeren länglichen Hütten. Warmes Licht fiel durch ein paar Schlitze in der Tür, die mein Begleiter jetzt mit dem Fuß aufstieß. Drinnen herrschte eine angenehme Wärme, die wie in Wellen über meinen Körper schwappte. Flackernde Fackeln warfen ihr helles Licht auf einen Stuhlkreis, in dem zwei Plätze frei waren. Der Rest der Jungs auf den belegten Stühle starrten uns an. „Setz sie dort hin", hörte ich die Stimme des Anführers und ein sanftes Knarzen ertönte hinter uns, als die Tür wieder zu fiel. Rasch zog ich meine Hände an mich, als ich auf einem der zwei freien Stühle niedergelassen wurde.

Verborgen im SchattenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt