10: Die Schafherde

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"Ich zeig dir die Ställe" Mit diesen Worten gab der Hüter der Schlitzer der schwarzen Tür einen Stoß und sie fiel knarzend ins Schloss, endlich versiegte der schwere Geruch nach ranzigem Blut. "Na komm", rief Winston ein paar Meter vor mir und ich stiefelte ihm, noch immer mit einem unguten Gefühl im Magen, hinterher bis hin zu zwei weitläufigen, grob gezimmerten Hütten, gerade so hoch das Winston darin stehen konnte. Bald gewöhnten sich meine Augen an das dämmrige Licht und ich erkannte die kleinen Schafe, die laut zu meckern begannen als sie unsere Schritte vernahmen. "Hier sind die Jungtiere", begann der Hüter der Schlitzer und deutete mit einer weit ausladenden Armbewegung auf die Tiere, die sich nun ängstlich in eine Ecke drückten. "Sie dürfen jetzt auf die Weiden". Winston lief beherzt auf die Schafe zu, was sie dazu zwang aus dem offen stehenden Gatter hinaus zu laufen. Wortlos beobachtete ich, wie der schwarzhaarige Junge sich einem eher schwächer scheinenden jungen Schaf in den Weg stellte und es hielt irritiert inne. "Was ist mit ihm?", fragte ich besorgt als er den Körper des kleinen Tieres ab zu tasten begann, das alles barmherzig über sich ergehen lies. "Es ist das schwächste, wenn es in ein paar Tagen nicht stärker geworden ist", er nickte mit dem Kopf in die Richtung, aus der wir gekommen waren und ich erinnerte mich an das Schlachthaus. "Nein nein nein es wird bestimmt kräftig und gesund" Rasch lief ich auf ihn zu und befreite das kleine Schaf aus Winstons Griff, welches sofort hinaus durch das hohe Gras zur Herde hüpfte. "Mal sehen. Du darfst jetzt den Stall ausmisten" Mit diesen Worten ergriff der Hüter der Schlitzer eine Schaufel, die an der Wand lehnte und zeigte auf eine Schubkarre die unter dem Fenster abgestellt war. "Darfst?", wiederholte ich seine Worte und er legte kurz grinsend den Kopf schief. "Musst. Du musst Ausmisten" Wenig begeistert nahm ich den Stiel der Schaufel entgegen und Winston nickte mir zu. "Wenn du den Mist auf die Karre geladen hast, fahr die hinter zum Haufen. Er ist zwischen den zwei großen Bäumen dort drüben" Mein Blick folgte seinem Finger, der durch eines der kleinen Fenster hinüber zu zwei großen Bäumen zeigte. Neben den Bäumen waren hohe Ranken auf Holz aufgespannt und einige Lichter wuselten geschäftigt um die Plantage herum. Unter anderem erkannte ich eine vertraute, schlaksige Figur, die sich gerade in den Himmel reckte. Newt war auch dort. "...verstanden Frischling!?, durchbrach Winston meine Gedanken und rasch nickte ich. "Verstanden!" Ich hatte keine Ahnung, was er gesagt hatte aber nachfragen konnte ich nun wohl schlecht. "Sehr gut, falls was ist ich bin drüben im Schlachthaus klar?" Der Hüter der Schlitzer verschwand rasch durch die offen stehende Tür und ich blickte ihm eine Weile nach. Was brachte den Jungs hier so viel Elan, am Leben zu bleiben? Das alles würde doch sowieso irgendwann den Bach runtergehen, sobald keine Hilfsgüter mehr kamen. Wenn die verbliebenen knapp waren, musste aussortiert werden. Was geschah mit den Aussortierten? Wenn das Essen knapp wurde, würden sie womöglich gegessen werden? Eine Gänsehaut rann mir kalt den Rücken hinunter und rasch schüttelte ich mich leicht, bevor mir meine Aufgabe wieder einfiel. Ausmisten. Wie schwer konnte das schon sein? Als die erste Schubkarre voll war, wischte ich mir über die Stirn, es war anstrengender als erwartet. Der Geruch nach Mist raubte mir mittlerweile fast den Atem und so war ich froh um die frische Brise, die mir durch die Haare wehte, als ich mich mit der Schubkarre auf den Weg zum Misthaufen machte. Ich hörte ein paar Pfiffe hinter mir und als ich mich herum drehte, grinsten mir drei Jungs mit langen Messern in den Händen zu. Rasch entschied ich mich dazu, sie zu ignorieren und setzte meinen Weg zu den Bäumen fort. Sofort spürte ich mehr als die drei Blicke von vorhin auf mir und als ich kurz zur Seite schaute, hielten mehrere Lichter inne und starrten mich an. Verdammt, hatte ich irgendetwas in den Haaren? Der Misthaufen fing meinen Blick und ich senkte die Schubkarre so, das aller Inhalt hinunter kugelte. "Toll machst du das", erklang es von der Seite und mir fiel auf, das sich ein regelrechter Auflauf zu meiner rechten angesammelt hatte, hatten die denn alle nichts mehr zu tun? Lachen ertönte und jemand stellte sich mir in den Weg, als ich zurück zu den Ställen gehen wollte. "Geh zur Seite", zischte ich den blonden Jungen an, der jetzt grinsend die Arme vor der Brust verschränkte. "Bring mich doch dazu Frischling". Das Blut in meinen Adern begann zu kochen und ich lies meine Hände von den Griffen der Karre in meine Hosentaschen gleiten. "Verzieh dich", sagte ich ruhig und wartete auf eine Reaktion des dreisten Jungens. "Bring mich doch dazu" Das war zu viel, meine rechte Faust sauste in sein Gesicht und weil er nicht damit gerechnet hatte, taumelte mein Gegner etwas zurück und hielt sich die Nase. Um mich herum erklangen überraschte "Ohs" und "Ahs" und ich hielt meine Hand hoch erhoben. "Blöde kleine Zicke". Ich holte erneut aus doch dieses Mal packte er mein Handgelenk und verdrehte es so, das ich mich auf den Boden knien musste. "Au lass mich los" Meine Stimme wandelte sich in ein wütendes Schreien und bald erklangen Schritte. "Wow wow wow was ist denn hier los?" Newt warf einen Blick zu mir herab und dann auf den Griff an meinem Handgelenk. "Verdammt Luke du kennst die Regeln" Ich wurde losgelassen, rasch erhob ich mich und wich überrascht ein paar Schritte zurück, als Newt meinen Gegner einen kräftigen Stoß gab sodass er auf den sandigen Boden aufprallte. "Willst du ins Loch?" Newt stand jetzt über der am Boden kauernden Gestalt. "Verhungern?" Seine Stimme wurde lauter. "Oder vielleicht lieber verbannt werden?!" Ich hielt den Atem an als der große blonde Junge die Fäuste ballte und seine Brust sich stark hob und senkte. Würde Newt auf ihn losgehen? Verstieß er damit nicht selbst gegen die zweite Regel? Füg nie einem anderen Schaden zu? Gut, er war zweiter Anführer aber das tat doch in einer solchen Situation nichts zur Sache oder? Dennoch schien jeder gewaltigen Respekt vor dem blonden drahtigen Jungen zu haben. "Nein", kam es muffelnd vom Boden und Newts Schultern lockerten sich etwas. "Wie war das?!" "Nein Newt" "Was ist eigentlich mit euch? Habt ihr nichts zu tun?", fauchte der Stellvertreter Albys wütend und rasch löste sich der Kreis aus Schaulustigen auf. Auch ich ergriff die Karre und machte mich an Newt vorbei zurück in den Stall der Jungtiere, er hatte mich nicht einmal bemerkt als ich mich an ihm vorbeigeschoben hatte, so wütend war er auf den am Boden liegenden Jungen gewesen.

Als ich nach zwei Stunden endlich fertig war und der gesamte Holzboden nun mit frischem Stroh und Heu ausgekleidet war, ließ ich mich erschöpft am Mittagstisch neben Winston nieder, der mich freundlich dazu aufgefordert hatte. Unter anderem hatte auch Gally einen Platz an unserem Tisch und ich fühlte mich noch immer nicht ganz wohl mit ihm, der Streit war noch lange nicht vergessen, egal wie schlecht er gelaunt gewesen war. Das hätte er schließlich nicht an mir auslassen müssen. "Und wie findest du es bei den Schlitzern?", fragte mich Winston von der Seite und ich lächelte leicht. "Die Stallarbeit macht Spaß" Der Hüter nickte anerkennend. "Du kannst später mit den Weibchen auf die Weide wenn du möchtest" Freudig nickte ich und Alby unterbrach unser Gespräch mit den wohlbekannten Worten, mit denen er uns guten Appetit wünschte. Das Fleisch vor mir duftete köstlich doch noch immer drehte es mir den Magen um bei dem Gedanken an das Schlachthaus. Die armen Tiere. Ich konnte sie jetzt wohl schlecht essen. Stattdessen schaufelte ich mir Unmengen an Kartoffeln und Salat auf den Teller und goss mir eine seltsam farbige Flüssigkeit in meinen Becher. Als ich einen vorsichtigen Schluck nahm, erkannte ich den unverkennbaren Geruch nach Holunder und ich erinnerte mich an die großen Sträucher mit den hellen Blüten neben dem Misthaufen. "Hat sie?" Ich blickte auf. "Keine Ahnung frag sie doch selbst" Winston nickte in meine Richtung und Gally vermied Blickkontakt. "Hab ich WAS, Gally?"

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