1. Gouverneure und Rituale

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Annabella vasta Mangold war nicht gerade das, was man die Vorzeigetochter eines Inselgouverneurs nannte, immerhin konnte ihr adrettes Aussehen nicht über ihr vorlautes Mundwerk hinwegtäuschen. Zumindest war Annabella für den Moment stillgestellt, entlockte sie doch ihrer silbern schimmernden Querflöte das traditionelle Erlösungslied, das bei Bestattungen gespielt wurde.

Mit Sicherheit wäre ihr unlängst ein unangebrachter Kommentar entwichen, schließlich maß sie den Totenriten keinerlei Bedeutung bei. Dies war umso misslicher, als dass sie nicht nur auf einer Bestattung war, sondern es sich bei dem Verstorbenen auch noch um ihren Großvater handelte.

Für ihren Opa bemühte sich Annabella trotzdem, die schwermütigste Variante der Trauermelodie zu spielen. Den Klumpen spürte sie schon fast selbst in ihrer Kehle. Ein Blick in die Runde verriet, dass die Zuhörer ähnlich empfanden. Betroffen tupfte sich Annabellas Schwester Vivienne die Tränen aus dem Gesicht. Unzählige andere Trauergäste hatten immerhin bleischwere Mienen aufgesetzt, so als stünde ihr eigenes Ableben bevor.

An der Spitze einer schroffen Landzunge streute Wendelin die Asche des Gouverneurs in das sanft schaukelnde Meer. Immerhin glaubte man, dass dort die Seele das Tor ins Jenseits passieren und Frieden finden würde. Kurz gesagt: Das Leben wartete auf dem Meeresgrund. Eine groteske Annahme, wie Annabella fand. Immerhin fand der Mensch bei zu langer Verweildauer unter Wasser den Tod, niemals aber das Leben.

Am Fuß der grauen Steilklippen aus porösem Tuffstein kühlte eine salzige Brise Annabellas von der Sonne überhitzte Haut. Jene Felsen waren es auch, die das Echo der Melodie durch die Gassen von Manava sandten. Auf diese Weise erfuhren die Bewohner der Innenstadt, dass gerade eine Bestattung stattfand. Heute aber war diese Art der Bekanntmachung gar nicht nötig. Dass Gustav vasta Mangold, der mit einundvierzig Amtsjahren am längsten amtierende Gouverneur der Insel Tarragoss, vor vier Tagen das Zeitliche gesegnet hatte, war durch beide großen Tageszeitungen bekannt gegeben worden.

Friedlich eingeschlafen, hatte es geheißen. Welcher Tod wäre schöner als im eigenen Bett zu entschlafen?

Für die nächsten Takte auf der Querflöte holte Annabella tief Luft. Sie wusste, dass bis zur nächsten Zeile keine Notenpause kommen würde und so musste sie einen langen Atem beweisen. Noch länger dauerte es bis zum Ende der sakralen Zeremonie an der Klippenkirche. Die Bestattung war danach aber noch nicht vorbei, schließlich folgte noch der profane Teil, der Leichenschmaus. Endlich war das Stück zu Ende und innerlich seufzte Annabella. Während sich die Anwesenden allmählich abwandten, verstaute sie ihre Querflöte in einem mit Samt ausgepolsterten Koffer.

Seit dem frühen Morgen war sie auf den Beinen und mit der Bestattung beschäftigt als hätte sie nichts Besseres zu tun. Dabei war sie im letzten Semester und stand kurz vor ihrem Diplom der Rechtswissenschaften, das sie nicht wegen althergebrachter Traditionen gefährden wollte. Zu lange hatte sie darauf hingearbeitet und sich nächtelang über ihre Gesetzesbücher gebeugt, um rechtliche Sachverhalte nachzuvollziehen und Präzedenzfälle zu begreifen.

Zusammen mit den anderen Trauergästen marschierte Annabella über die Steinplatten des Kirchenweges, zwischen denen Grashalm und Unkraut hervorsprossen. Lobende Worte über ihr wunderbares Flötenspiel nahm sie mit einem lächelnden Nicken entgegen und bedankte sich höflich. Das Eisentor quietschte, als der Vorderste der langen Prozession es aufstieß. Danach schob sich Annabella am geöffneten Torflügel vorbei und gelangte an die sichelförmige Hafenpromenade, wo die Palmen im Wind auf und ab wogten. Könnte sie doch nur in ihr Appartement heimkehren. Ihre Augenlider folgten der Schwerkraft. Sie wollte nur schlafen, aber dem Leichenschmaus durfte sie nicht fernbleiben.

Da die Menschen sich um die Mietkutschen drängten und Annabella keinen ihrer Familienangehörigen entdeckte, machte sie sich zu Fuß auf zum Gouverneurshaus. Dazu musste sie nur der Straße an den Klippen landeinwärts folgen und dann die Abzweigung in den Tunnel nehmen. Vielleicht würde sie dann auch wieder wacher werden.

Der Mythos von Tarragoss Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt