Annabella sinnierte über Vitus und all die Männer, die sie bereits abserviert hatte. Sie stempelte sich selbst als heiratsunfähig ab, ohne je darüber nachgedacht zu haben, woran es liegen mochte. Heute fiel ihr ganz schnell ein Grund ein: Opa Gustav hatte ihr die Freude daran verdorben, als er sie in eine arrangierte Ehe hatte drängen wollen.
Doch der Heiratsunwille war schon zuvor da gewesen. Vermutlich rührte er aus der schlechten Ehe ihrer Eltern. Ihre Mutter hatte vor elf Jahren fluchtartig die Insel und ihre Kinder verlassen und damals nachhaltigen Schaden bei der gerade pubertierenden Annabella angerichtet. Früher hatte sie schon geglaubt, dass sich ihre Eltern lieben würden. Umso größer war der Schock über die plötzliche Trennung gewesen.
Wenn Annabella jemals heiraten und Kinder bekommen würde, müsste sie es in jedem Fall besser ... Nichts da!
Sie schüttelte den Kopf, als könnte sie damit jegliche Männer vergessen. Schließlich musste Annabella sich auf das Wesentliche konzentrieren. Auf ihr Studium und das Ziel, Kolonialadvokatin zu werden.
Die stehende, feuchtwarme Luft wich dem Wind, der ihre Haut streichelte. Am Himmel brauten sich neuerlich dunkle Wolken zusammen und schon spürte sie den ersten Tropfen auf ihrer Wange.
Annabella wusste von den regelmäßigen Regengüssen im Urwald. Diese waren meist von kurzer Dauer, aber von hoher Intensität. Trockenen Fußes würde sie die schützende Kutsche nicht erreichen, sodass sie einen unbehaglichen Blick über ihre Schulter zum Stolleneingang warf. Als Regenunterstand würde er nützen, wobei sie keinen Meter tiefer als nötig in die Mine gehen würde.
Die Sonne verschwand hinter der Wolkendecke und der Tag wurde zur Nacht. Dicke Regentropfen prasselten auf die schwarze, erhitzte Erde und verdampften sogleich. Wenig später zogen Dampfschwaden an den leblosen Hängen des Akalua-Hügels in die Höhe, als würden sie die Schandtat von vor sieben Monaten verbergen wollen.
Oder hielt der Nebel nur eine Bedrohung geheim, die langsam zu Annabella schlich? Unwillkürlich kauerte sie sich an einen rußigen Balken und knabberte an ihren Fingernägeln. In der Mine hatte wirklich ein Feuer gewütet. Aber wieso waren die Angreifer in den Stollen gelaufen und hatten die Mine in Brand gesteckt? Und viel interessanter: Wie waren sie dem innerhalb von Sekunden tödlichen Rauch wieder entkommen?
Passend zum eintönigen, fast schon einschläfernden Rauschen des Niederschlags gesellte sich das schleichende Grollen eines Donners, das Annabella bis unter die Haut fuhr. Ihr Blick schnellte gen Himmel. Die Wolken waren so dicht wie das ungeschorene Fell eines grauen Alpakas. Gewitter waren auf Tarragoss - im Gegensatz zu Regenschauern - selten, sodass Annabella über das plötzliche Hereinbrechen verwundert war.
Konzentriert starrte sie die Wolken an, wollte sie die nächste elektrische Entladung mit eigenen Augen sehen. Der Blitz blieb aus, doch das Donnern rumpelte erneut und der Balken, an den sie sich angelehnt hatte, vibrierte. Erst jetzt ging ihr ein Licht auf und mit zusammengezogenen Augenbrauen wandte sie ihren Blick in den Stollen.
Das ungleichmäßige Brummen war kein Donnern, sondern aus dem Takt geratene Trommeln.
Welcher Verrückte setzte sich in eine ausgebrannte Mine, um dort zu trommeln? Und wenn tatsächlich noch jemand unter Tage war, dann war Vitus in Gefahr.
"Vitus?" Ihre Stimme hallte in der kahlen Gesteinsröhre. Annabella wollte nicht in die Mine gehen, aber konnte sie ihn allein lassen? Vielleicht war er noch gar nicht weit gekommen und ein paar winzige Schritte in den Stollen genügten, um ihn zu finden und im Anschluss nach Manava zurückzukehren.
Ihr leicht aufgebauschtes, violettes Kleid und ihre flachen Absatzschuhe waren vergleichsweise bequem, doch zum Laufen in einem dunklen Stollen war dieses Gewand nicht geeignet. Als sie den Wänden zu nahe kam, kratzte das schroffe Gestein auf ihren Oberarmen. Sehen konnte Annabella mangels einer Lichtquelle überhaupt nichts, doch der Wille, schnellstmöglich Vitus zu finden und von hier zu verschwinden, trieb sie an.
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Der Mythos von Tarragoss
Fantasy"Legt man sich mit den Ureinwohnern an, legt man sich mit der ganzen Insel an." * * * Die Südseeinsel Tarragoss ist die Heimat von Kolonisten, Ureinwohnern und einem unterdrückten Mischvolk. Im Pulverfass aus altem Hass, Verzweiflung und Rachegelüst...