Die Tage verschwammen in Eintönigkeit, so wie das Kerzenlicht in der rauen Wand verschwamm und zum Teil skurille Schatten formte. An den Hunger und den Gestank hatte sich Vitus nach Wochen gewöhnt.
Sein Lichtblick waren Gottharts Besuche, die jedoch nicht allzu häufig stattfanden, schließlich sollte niemand von der Freundschaft, die die beiden pflegten, erfahren. Gotthart war für Vitus ein Ersatzvater geworden, als der im Makha-Viertel bei seinen Ermittlungen in Schwierigkeiten geraten war. Als frischgebackener Waisenjunge von zwölf Jahren hatte Nakoa gegen die Kriminalität, die seine Familie ins Grab gebracht hatte, ankämpfen wollen.
Nachdem er beobachtet hatte, wie eine kriminelle Schmugglerbande einen Gendarmen ohnmächtig geschlagen hatte, hatte Nakoa sie über die Dächer verfolgt und das Versteck ausgekundschaftet. Natürlich hatte er gewartet, bis alle Schmuggler verschwunden gewesen waren und hatte danach die Kellertür aufgebrochen. So war Nakoa zum ersten Mal Gotthart vasta Rax begegnet - damals mit noch mehr Haaren auf dem Kopf -, der ihm diese Tat nie vergessen und später ein Leben als Kolonist ermöglicht hatte.
Und jetzt saß der Neukolonist hier, in einer Zelle, in die er sich selbst manövriert hatte. Warum? Weil er ein besseres Leben hatte führen wollen, als ihm als Makha zugestanden war.
Wenn nur wenigstens seine Ermittlungen gegen Regina irgendwie gerettet werden könnten. Annabella hatte nichts von ihrer Verteidigungsstrategie bekanntgegeben, die sie hoffentlich ausgetüftelt hatte. Zu gerne hätte Vitus gewusst, ob und was sie vorhatte, aber sie hatte sich seit ihrem letzten Besuch nicht mehr gemeldet.
So war ihm gänzlich unbekannt, was seine einzige Hoffnung zu sagen hatte, als er sich an diesem Morgen im Gerichtssaal des Hohen Gerichts von Tarragoss einfand. Natürlich hatte Vitus keinen Advokaten beauftragen können. Niemand wollte einen Makha vertreten. So fand sich Vitus allein auf der linken Seite des komplett vertäfelten Saals ein.
Ein Relief an allen vier Wänden zeigte Motive aus Korallen und Fischen unter Wasser, von Schiffen im Sturm, einer Insel im Meer und eines Vulkanausbruchs. Es ließ anmuten, als wären die Kolonisten gegen alle Naturgewalten gewappnet und bestens mit den Geistern der Insel Tarragoss verknüpft, doch nichts davon traf zu.
Mit Füßen hatten die Eroberer die spirituelle Seite der Insel getreten, hatten sie zerstört und vernichtet, sodass nicht mal den Makha der richtige Umgang mit den Naturgeistern gegeben war. Es war wohl allein den Ulakas vorbehalten, noch den Kontakt zu den alten Geistern zu pflegen, doch Genaueres war nicht bekannt.
Schließlich hatte seit dem Vernichtungsschlag niemand mehr die Ureinwohner gesehen und niemand wusste, wie sie zu leben pflegten: Ob sie ihre Ahnen weiterhin verehrten und mit den Naturgeistern sprachen oder sich von ihnen abgewandt hatten. Doch wenn es das Wissen gab, wie man die Nachtwanderer aufhalten könnte, dann würde man bei den Ulakas fündig werden. Schließlich entstammten ihnen die gequälten Seelen.
Die Beibringung der Totenriten am Leib eines Nachtwanderers war wohl unerlässlich, um seine Seele zu befreien. Doch wie könnte man einen Untoten töten, um die Riten auszuüben?
Mit leerem Blick horchte Vitus den Aussagen seiner ehemaligen Kameraden. Lauschte dem alten Tarsan, als zumindest er Partei für Vitus ergriff.
"Ich kann nur sagen, dass er seine Arbeit tadellos gemacht hat, Richterin vasta Mangold. Ihr wisst ja selbst, dass den Festsetzungsbefehlen, die von ihm an Euch herangetragen wurden, stattzugeben waren. Astreine Arbeit, Ihr wisst. Deswegen ist's mir echt unbegreiflich, was hier grade läuft. Warum seit Wochen über seine Schuld verhandelt wird, während das echte kriminelle Gesindel frei herumrennt."
Olivia vasta Mangold hob eine Hand, als wollte sie einen wild gewordenen Gaul beruhigen. "Bitte, bemüht Euch um eine angemessene Ausdrucksweise."
Äußerlich war es Tarsan kaum anzumerken, aber Vitus kannte ihn lange genug, um zu wissen, dass sich der Alte in Rage geredet hatte. "Wenn Ihr Euch um ein angemessenes Urteil - also um einen Freispruch - bemüht, gern!"
Ein Raunen ging durch die Zuschauerbänke.
Mit rollenden Augen erhob sich Tarsan vom Zeugenstand und klemmte sich seine Kappe unter den Arm. "Ich hab alles gesagt."
Im Stillen dankte Vitus Tarsan für seine Worte. Sein Freund und Mentor war einer der wenigen Kameraden der Gendarmerie, die sich offen auf Vitus' Seite stellten.Vielmehr musste Vitus die Demontage durch seine Kameraden ertragen. Bartholo, der Vitus als ärgsten Konkurrent um den Posten des Prinzipals angesehen hatte, schien es geradewegs zu genießen, ihn zu vernichten. Doch auch andere Kameraden hielten sich nicht zurück. Begonnen beim heimtückischen Makha-Tonto, der alle hinters Licht geführt hatte, bis hin zu dem Kriminellen, der wohl mal Kriminaler spielen wollte.
Vitus fühlte in den Momenten, als jeder auf ihn eintrat, nicht einmal Wut, Zorn oder gar Schuld. Er war von Grund auf enttäuscht. Gerade von seinen Kameraden, mit denen er zwölf Jahre zusammengearbeitet hatte und die ihn eigentlich als Mensch kennen sollten, hatte er sich anderes erhofft.
Die Beleidigungen waren teilweise derart unter der Gürtellinie, dass sich Vitus wunderte, warum die Zeugen all das sagen durften, statt sie - wie Tarsan - um einen angemessenen Tonfall zu bitten.
Richterin vasta Mangold folgte dem ganzen Geschehen ohne die Miene zu verziehen. Ihr Blick war eiskalt wie der einer Schlange, die ein flauschiges Häschen im Visier hatte.
Offenbar nahm sie es Vitus übel, dass er ihre Nichte um ein Rendezvous erpresst hatte. Zugegeben, das war nicht sein klügster Zug gewesen, aber wie hätte er sonst ein Rendezvous mit Annabella ergattern sollen? Bei einer Dame, die von vornherein jede Einladung abgelehnt hatte?
Außerdem hatte sich Annabellas anfängliche Ablehnung in Wohlwollen aufgelöst. Wenn Richterin vasta Mangold ihrer Nichte in den letzten Wochen nur einmal zugehört hat, dann müsste sie eigentlich wissen, dass sie Vitus eine Chance auf einen gerechten Prozess geben sollte.
Aber der raue Umgangston im Hohen Gericht stimmte Vitus missmutig bis hin zu hoffnungslos. Olivia ließ jeden Ausdruck zu, ohne zu unterbrechen, und das sagte schon viel über das zu erwartende Urteil aus. Andererseits: War Vitus wirklich so naiv gewesen zu glauben, er würde unter einem Haufen Kolonisten einen fairen Prozess erhalten?
Das war, als würde ein Schaf um die Aufnahme in ein Wolfsrudel bitten. Der Ausgang des Prozesses hatte festgestanden, ehe er begonnen hatte. Wozu das Schmierentheater überhaupt dienlich war? Vitus wusste es nicht. Vermutlich nur, um einem Makha unter die Nase reiben zu können, dass er nichts wert war. Doch dieses Aufwands hätte es gar nicht bedurft. Seit seiner Verhaftung wusste er das auch so.Nach gut zwei Wochen des laufenden Prozesses, der wegen abwesender Gendarmen, Kriminellen und sonstigen Kolonisten, die gegen ihn hatten aussagen dürfen, immer wieder vertagt worden war, war das Ende absehbar. Endlich. Vitus lag am Boden. Jeder hatte einmal auf ihn eingetreten, ihn mental niedergemacht und ihn wie den Aussetzigen behandelt, der er als Makha war.
Von Annabella fehlte jede Spur. Vermutlich war es ihrer Zukunft zuträglicher, wenn sie sich aus dem Prozess raushielt. Vitus konnte sie verstehen, wenngleich die Enttäuschung doch ein wenig an ihm nagte. Aber vielleicht war es besser so. Vielleicht sollte sie besser ihre eigene Haut retten als seine Ermittlungsergebnisse.
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Der Mythos von Tarragoss
Fantasi"Legt man sich mit den Ureinwohnern an, legt man sich mit der ganzen Insel an." * * * Die Südseeinsel Tarragoss ist die Heimat von Kolonisten, Ureinwohnern und einem unterdrückten Mischvolk. Im Pulverfass aus altem Hass, Verzweiflung und Rachegelüst...