20. Strömungen und Wellen

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Der Satinstoff ihres Kleides war dünn. Trotzdem saugte er sich mit Wasser voll und wurde so unendlich schwer, als wollte er Annabella in die Tiefe ziehen. Dass die vom Wind aufgepeitschten Wellen sie zurück nach Manava spülen wollten, erleichterte ihr Vorhaben keineswegs. 

"Was hast du eigentlich vor?", fragte Ricardo zwischen keuchenden Atemzügen. Er spuckte Salzwasser aus, das ihm scheinbar die Geschmacksknospen verätzte. 

"Zur Innenstadt schwimmen", antwortete Annabella und strampelte kräftig mit den Füßen. Das Meer war lauwarm und doch schüttelte ein Schauer nach dem anderen ihren Körper.

Wolken verbargen das fahle Mondlicht und Annabella konnte Ricardo nicht sehen. Dass er nicht begeistert war, hörte sie an seiner Stimme. "Das ist bei Tageslicht schon ein tödliches Unterfangen."

"Gut, dann wissen wir wenigstens, wie es endet", gab sie forsch zurück. "Warum bist du überhaupt mitgekommen, wenn du so Schiss hast?"

Einen Zweifler und Angsthasen wie ihn konnte Annabella in ihrer Lage überhaupt nicht gebrauchen. Doch wenn sie ehrlich zu sich war, war sie froh, nicht allein zu sein … nicht allein sterben zu müssen. Dass ausgerechnet Ricardo bei ihr sein würde, ließ Annabella die Augen rollen.

Ricardo seufzte. Wasser gurgelte, als er sich hindurch wühlte. "Weil ich dich liebe und ich dich niemals allein lassen würde."

Annabella wusste, dass er manchmal dick auftrug. Trotzdem trafen seine Worte sie wie ein Hammerschlag, der ihr Herz zum Stillstand brachte. Vitus hatte sie allein gelassen. Wegen Vitus war sie in diese Lage gekommen. Dass es anders ging, bewies Ricardo. Er ging mit Annabella sogar in den sicheren Tod, nur um bei ihr zu sein. Und das, obwohl sie ihn abgewiesen und geohrfeigt hatte. Sein Leben musste wirklich leer und einsam sein, wenn er sich so sehr an sie klammerte.

"Ricardo", sagte Annabella mit dem Anflug von Bedauern. Ihre Zähne klapperten vor Kälte aufeinander. "Wenn wir das hier - wie auch immer das möglich sein soll - überstehen, wird sich nichts zwischen uns ändern." Eine rollende Welle schnitt Annabella das Wort ab. Sie schluckte Salzwasser, das ihren Mund zusammenzog, und sie hustete. 

"Aber was muss ich denn tun, damit sich was ändert?" Ricardo klang wie ein bockiges Kind, das kein Bonbon aus der Süßwarenauslage bekam.

Annabella spuckte die letzten Reste des Wassers aus. Die Innenstadtmauer rückte in greifbare Nähe. Gefährlich wurde es, wenn die beiden nicht mehr im Schatten der steinernen Barrikade schwimmen und den Weg über das offene Meer nehmen würden. Ab dort gab es nämlich nichts mehr, das die Strömung bremste. 

Geschuldet war dies der Sichel, an der Manavas Innenstadt gebaut worden war. Das Wasser strömte vom Süden her, wo auch die Gouverneursinsel lag, in den Kessel hinein und von dort im Norden wieder hinaus. Die Mauer unterband die Strömung für ihre Länge ins Meer von etwa dreihundert Metern. Dies führte jedoch dazu, dass die geballte Kraft des Wassers hinter der Blockade zum Tragen kam und man regelrecht ins offene Meer hinausgerissen wurde.

Das Wasser war schwarz wie Tinte und für einen Moment dachte Annabella an die Kreaturen in der Mine zurück. Wenigstens könnte sie nicht mehr von denen verfolgt und getötet werden, wenn sie heute unfreiwillig Tarragoss verließ.

An der Innenstadtmauer angekommen hoben die Wellen Annabella hoch und runter. Sie fasste nach den Steinen, die mit schleimigen Algen überzogen waren. Ihre Fingernägel rissen ein, als sich Annabella geradezu in die Fugen krallte, um nicht an Land gespült zu werden. Wie ein Äffchen an seiner Mutter hing sie dort und versuchte, zu Kräften zu kommen, ehe sie das Umschwimmen der Mauer angehen würde.

Ricardo musste das Schlagen der Wellen gegen die Barrikade übertönen, sodass er seine Stimme erhob: "Wir können immer noch zurück!"

Annabella presste die Lippen aufeinander. Eigentlich reichte ihr es, einmal im Leben fast ertrunken zu sein, wenngleich das Erlebnis schon etwa fünfzehn Jahre zurücklag. Dass das geplante Vorhaben nicht besser enden würde, war Annabella bewusst und doch schüttelte sie den Kopf. "Du hast gesagt, die Entführer warten dort auf mich. Und dieser blöde Sautonto will mich von seinen Häschern missbrauchen lassen, sobald mein Vater seine Forderung erfüllt hat. Ich gehe sicher nicht zurück."

Der Mythos von Tarragoss Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt