28. Pfeilsalve und Schlachtstätte

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Wie wohlig warm sich ihr Körper an dem seinen angefühlt hatte, als sich Annabella an ihn gekuschelt hatte. Sie hatte so friedlich ausgesehen. Die Erinnerung an letzte Nacht mit Annabella hielt Vitus in einem Tagtraum gefangen - ein Wunder, dass er sich nicht in die Hand sabberte.

Machalla hatte recht gehabt, als sie gesagt hatte, dass die neu auflodernden Gefühle, die Vitus in seine alte Liebe interpretiert hatte, gar nicht ihr gelten würden. Der Auslöser war nicht Machalla gewesen, sondern Annabella.

Aber warum sie?

Zum ersten Mal hatte Vitus Annabella vor gut vier Jahren auf einem der Gesellschaftsbälle im Gouverneurshaus gesehen. Gustav vasta Mangold hatte zur Feier seines fünfundsiebzigsten Geburtstags geladen. 

Es war die erste Veranstaltung gewesen, zu welcher der Prinzipal Vitus mitgenommen hatte - als Belohnung für den Fleiß, den er in seine Arbeit gesteckt hatte. Immerhin durften nur die leitenden Kriminalbeamten in den Kreisen der gehobenen Gesellschaft verkehren.

Schon als Annabella damals, zusammen mit einer kleinen Musikkapelle, auf der Querflöte das Empfangslied gespielt hatte, war ihm ihr hübsches Gesicht aufgefallen. Die hellen Augen funkelten sogar aus der Ferne und waren umrahmt von dichten Wimpern. Fein geschwungene Augenbrauen verliehen ihr ein sanftmütiges Gesicht.

Herzallerliebst, hatte Vitus in seinen Gedanken geseufzt. Damals hatte er nicht gewusst, wer sie war. Zumindest so lange, bis sich Annabella an den Gouverneurstisch gesetzt hatte - denn dann hatte ihn eine leise Ahnung beschlichen.

Nachdem sein Blick immer wieder an ihr hängen geblieben war und Vitus eine Weile für sie geschwärmt hatte, wollte er schließlich von Gotthart wissen, ob er mit seiner Vermutung recht gehabt hätte. 

Mit Bedauern hatte Gotthart seinen Untergebenen angeblickt, ihn über Annabellas Identität aufgeklärt und gesagt, dass sie wohl eine Nummer zu groß für Vitus sein würde. Immerhin würden Kriminalbeamte nicht den Ansprüchen von Gouverneurstöchtern gerecht werden.

Dass Gotthart mit dieser Einschätzung recht hatte - und dass Annabella nicht so herzallerliebst war, wie Vitus an ihrem Gesicht ausgemacht hatte -, hatte er schon beim ersten gemeinsamen Tanz bemerkt, den Vitus mit ihr hatte ergattern können.

Annabella hatte ihn fühlen lassen, dass sie seine Tanzaufforderung nur der Etikette wegen nicht abgelehnt hatte. Kratzbürstig und abweisend war sie gewesen, so als hätte sie von Beginn an klarstellen wollen, dass Vitus sie kein zweites Mal - für alle Zeit - zum Tanz auffordern sollte. In der Folgezeit hatte er sich aber einen Spaß daraus gemacht und sie auf diesen Bällen immer wieder zum Tanzen abgeholt. Was ihre abweisende Art angegangen war: Dagegen war Vitus resistent gewesen. Und mittlerweile bedurfte es dieser Resistenz offensichtlich gar nicht mehr. 

Seine Gedanken wirbelten umher und kurz drehte sich seine Stube vor seinen Augen, als ihn eine Erkenntnis packte: Damals hatte Annabella ihn gehasst - doch gestern Nacht hatte sie Vitus in ihr Bett gelassen. Sein Herz schlug höher und sein Mund war trocken, als ihm bewusst wurde, wie weit er schon gekommen war.

Unter einem Keuchen fuhr sich Vitus mit einer Hand über den Mund. Vielleicht hätte er Annabella küssen sollen. Vielleicht hätte sie es gewollt. Vielleicht hätte es aber auch die neu gewonnene Nähe wieder zunichte gemacht, weil Vitus ihre Labilität ausgenutzt hätte. Bei Annabella war er sich schlicht nicht sicher, woran er war oder wie sie reagierte. 

Fürs Erste würde es ihm genügen, wenn Annabella keinen Rückzieher machten und sich ihre nicht vorhandene Beziehung weiterhin auf diesem Level bewegte - wenn Vitus weiterhin mit ihr kuscheln dürfte, auch wenn nichts weiter passierte. Sie sollte einfach nur wissen, dass er da war, falls sie ihn brauchte. Zufrieden lehnte sich Vitus in seinem Schreibtischsessel zurück. Die beiden waren auf dem richtigen Weg.

Der Mythos von Tarragoss Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt