40. Abschied

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Gemeißelter Efeu rankte an den Steinsäulen in die Höhe, an denen Vitus bei seinem Gang durch das Hohe Gericht ins Freie vorbeischritt. Den Kopf eingezogen, die Schultern hängend. Er war ein freier Mann, doch empfand er keine Erleichterung.

Schon gar nicht, als er die vergittertete Kutsche erblickte, die ihn heute Morgen hergebracht hatte und gerade in diesem Moment Annabella abtransportierte. Seine Kehle verknotete sich zu einem schmerzhaften Kloß, den er nicht lösen konnte.

Wie gleichgültig sie ihr Leben weggeworfen hatte für einen Makha.

Der Schlüssel ihres Appartements wog schwer in Vitus' Hand. Das Stück Papier, auf welchem der Angriff auf Nak'Umawea verkündet war, umso schwerer, als dass Annabella ihm eine Aufgabe mit auf den Weg gegeben hatte.

Da sich Vitus beobachtet fühlte, warf er einen Blick zurück zum Gerichtsgebäude. Über dem Eingangstor thronte der juristische Sinnspruch: Was des einen Lüge ist, ist des anderen Wahrheit. Und die Wirklichkeit herauszufinden, war Aufgabe des Gerichts. 

Vitus suchte die Spitzbogenfenster ab und er glaubte, Olivia vasta Mangold an einem davon stehen zu sehen. Doch die Silhouette verschwand, ehe er Genaueres hatte erkennen können.

Trotz des abfallenden Weges in die Unterstadt kam Vitus kaum voran, er konnte seine Beine kaum heben. Der Gang zu Annabellas Appartement war schwerer als jeder Gang zur Anklagebank.

Es hätte nie soweit kommen dürfen. Er hätte Annabella nie um Hilfe bitten sollen. Wie sollte Vitus je damit zurechtkommen, was er angerichtet hatte? Wie sollte er ihr Appartement betreten, ohne dass ihn sein Gewissen zugrunderichtete?

Nur der Gedanke, dass Loah dort auf ihn wartete, trieb Vitus an. Und als würde der Kater wissen, wie sehr sich Vitus quälte, verließ er das Appartement, sobald die Tür offenstand.

Dass sich Annabella gut um Loah gekümmert hatte, bemerkte Vitus anhand der Plauze, die der Kater mit sich trug. Scheinbar hatte er das an Gewicht zugenommen, das Vitus in den letzten drei Wochen verloren hatte. Ein ordentlicher Speckring lag in seiner Hand, als er Loah hochnahm und über seine Schulter legte. Sofort ertönte das vertraute Brummen, das Vitus' Ohren massierte und ihn halbwegs zur Ruhe kommen ließ.

Zuhause sinnierte Vitus rastlos über sein Leben. Wie sollte es weitergehen? Ob er überhaupt noch als Gendarm arbeiten konnte? Und wie sollte er Nak'Umawea finden, dorthin gelangen und die Ulakas warnen? Nichts davon war geklärt und doch hätte es ihm nicht gleichgültiger sein können. Für ihn galt nur Annabellas Rettung. Doch wie konnte er ihren und seinen Wunsch am besten vereinen?

Eine innere Unruhe warf ihn nachts im Bett hin und her und auch am Folgetag saß Vitus keine Sekunde still. Es blieb nur ein Entschluss: Er tat den Besuch, den er tun musste.

Voltolanplatz fünf.

Die Bekrönung über der Tür zeigte eine hellgraue Unterwasserwelt aus Korallen, Algen und Fischen. An den Rändern sprang je ein Delfin in die Höhe.

Durch die massive Koaholztür trat Vitus ein. Schwarzweiße, leicht zu reinigende Kacheln pflasterten den Boden. Ein erdiger Pollenduft hing in der Luft, der von den Blumen in den massiven Hängekörben in der Galerie verströmt wurde. Eine Glaskuppel spendete genug Sonnenlicht, sodass die Blumen gedeihen konnten.

Hinter den Säulen entdeckte Vitus die Appartementtüren der anderen Bewohner, doch sein Weg führte ihn über einen roten Teppich in die zweite Etage. Der Handlauf der Treppe bestand aus weißem Marmor aus Madras, ebenso die Brüstung der Galerie.

Welch Protz. Das perfekte Haus für die Bürger der Oberschicht. Dass Annabellas Tante so viel auf diesen Luxus gab, war Vitus nicht in den Sinn gekommen.

Der Mythos von Tarragoss Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt