27.2. Nacht und Morgenrot

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Am nächsten Morgen wurde Annabella vom Vogelgezwitscher aus dem Schlaf gerissen und schlug die Augen auf. Rote Federbälle hüpften vor dem Sprossenfenster des Schlafzimmers herum, verursachten dabei ein blechernes Klacken auf dem Fensterbrett und suchten nach ein paar Krümeln. Als würde Annabella irgendwelche Brösel aus dem Fenster werfen: Wie dumm waren diese Viecher eigentlich?

Sie spürte den warmen Hauch eines Atems über ihren Nacken streichen. Ein Arm, so schwer wie eine Schraubzwinge, hatte sich um ihre Taille gelegt. Sofort richtete sich Annabella auf und drehte sich um. Sie erstarrte. Vitus zog seinen Arm zurück. Ansonsten starrte er sie genauso regungslos an wie sie ihn.

Ihr Puls pochte vor ihren Augen und Fragen rauschten ihr durch den Kopf, die sie sich sogleich selbst beantwortete: Nein, er hatte sich nicht hinterrücks angeschlichen oder in ihr Bett gemogelt. Es war ihre eigene Schuld, dass sie beide diese Nacht gemeinsam verbracht hatten - und diese Tatsache hasste Annabella, denn sie wollte ihm Vorwürfe machen. Wollte ihn fragen, was das sollte, warum er hier lag.

Immer noch starrte Annabella ihn an. Musterte seine unergründlich schwarzen Augen. Doch im Licht der Morgensonne erkannte sie, dass seine Iriden nur derart dunkelblau waren, dass man sie aus der Distanz betrachtet für schwarz halten konnte.

Annabella wäre von seinen Augen fasziniert gewesen, hätte in ihnen nicht dieser schelmische Ausdruck gelegen. Denn mit jeder Sekunde, die verstrich, war es Vitus mehr und mehr anzusehen, dass er vehement gegen ein Grinsen ankämpfte, das an seinen Lippen zerrte.

Annabella zog die Augenbrauen zusammen. "Was gibt's da zu lachen?"

"Nichts", antwortete er schnell, wobei er seine Mundwinkel nun doch nicht mehr unter Kontrolle hatte und ein Grinsen seine weißen Zähne entblößte. "Ich, äh, ...", krächzte er und räusperte sich. "... wollte dich eigentlich nicht unsittlich berühren, aber wäre ich noch weiter weggerutscht, wäre ich aus dem Bett gefallen."

Annabella fuhr mit einer Hand über die weiche Matratze hinter sich und bemerkte, dass sie den Großteil des Betts für sich beanspruchte. Sofort rutschte sie ein Stück zurück und konnte nicht verhindern, dass ihr die Hitze in die Wangen stieg. In der vergangenen Nacht hatte sie ihn nicht nur in ihr Bett gelassen, sondern im Schlaf auch noch seine körperliche Nähe gesucht, sich an ihn gekuschelt.

Großmütig nickte Annabella mit einem "Mhm", ließ ihren Kopf in das cremefarbene Kissen sinken und schielte Vitus entgegen. Sie war entschlossen, nichts dabei zu fühlen - und doch wäre es gelogen, würde sie behaupten, dass da kein Schwarm Kolibris in ihrem Unterleib flatterte. Bei seinem Lächeln, den Fältchen und den Grübchen in seinem kantigen Gesicht, könnte sie niemals stark bleiben.

"Die Trennlinie zwischen uns, die du bestimmt hast ...", begann Vitus.
Annabella fühlte die Schamesröte in ihrem Gesicht. Ja, sie hatte diese Linie von sich aus überschritten, und das nur wenige Minuten nachdem sie diese festgelegt hatte. Sie wollte ihm über den Mund fahren, irgendetwas erwidern, aber ihr wollte nichts einfallen, das die Lage nicht noch verschlimmert hätte.

"Also ich hätte mich an die Linie gehalten", beteuerte Vitus und zog die Schultern an. Scheinbar wollte er klarstellen, dass er Annabellas Wünsche und Befindlichkeiten respektierte. Doch an diesem Morgen war ihm gar nichts anderes übriggeblieben, allen voran ihr Steißbein auf diese Weise zu berühren, wie es nur bei frisch verliebten Paaren vorkam. "Aber irgendwie hast du die Linie selbst sabotiert."

Ihr Gesicht glühte als hätte Annabella einen Sonnenstich. "Und darauf bildest du dir jetzt was ein?"

Vitus nickte. "Schon."

Annabella erhob den Zeigefinger und hielt ihm diesen vors Gesicht. "Erstens war ich in einer emotionalen Ausnahmesituation. Zweitens war unsere Kleidung dazwischen", sagte sie und fügte in Gedanken ein Zum Glück an. Mit Vitus was anzufangen, war das Letzte, das sie gerade gebrauchen konnte. Ihr Studium, die Suche nach Nak'Umawea, die Nachtwanderer: Alles Dinge, um die sie sich kümmern musste. "Und drittens wird niemand hiervon erfahren."

Vitus legte den Kopf schief, wobei er sich nur tiefer in das Kissen drückte. "Wovon erfahren?"

Annabella deutete vage in den Raum. Vier mit Floralmustern und Ranken beschnitzte Säulen aus honigbraunem Koa-Holz ragten an den Ecken des Betts in die Höhe und stützten den prunkvollen Baldachin aus rosafarbenem gerafften Samt über ihren Köpfen. "Na, von unserer gemeinsamen ..." Dann nickte sie. "So will ich das!"

"Ist mir schon klar", gab Vitus zurück und winkte ab. Er schlug die cremefarbene Steppdecke um und setzte sich auf. Seine Halsbinde hatte er zum Schlafen entfernt. Die ersten Knöpfe seines Hemdes waren offen, sodass ein paar seiner Brusthaare hervorblitzten.

Männlich, war Annabellas erster Gedanke, der sogleich ihre Fantasie anregte. In ihren Gedanken würde sie sich auf Vitus setzen, ihre Hände auf seine Brust legen und mit ihren Fingern über seine Brusthaare streichen. Dann würde sie alle Knöpfe, langsam und sinnlich, öffnen und den Hemdstoff zur Seite schieben.

Gestern hatte Annabella zwar nur kurz seinen Oberkörper zu Gesicht bekommen, als Vitus ihr seine blauen Flecken gezeigt hatte. Doch es hatte ausgereicht, dass sich der Anblick seiner ausgeprägten Brustmuskeln und seines sehnigen Bauchs in ihr Gehirn gebrannt hatte.

Ihr Puls flatterte gegen ihr Trommelfell und Annabella musste darauf achten, nicht schwer zu atmen. Zuletzt würde sie an seinem Hosenknopf herumfummeln und... Ehe sie den Gedanken zu Ende führen konnte, kniff sie die Augen zusammen und schüttelte den Kopf. An so etwas durfte und wollte sie gar nicht erst denken!

Annabella verfluchte es, ihren lüsternen Gefühlen so hilflos ausgeliefert zu sein. Das Brodeln in ihrem Unterleib forderte sie dazu auf, über Vitus herzufallen wie ein wildgewordener Leopard. Sie krallte sich mit ihren Fingern in das Bettlaken, atmete tief und ruhig, um die Kontrolle über sich zurückzubekommen.

Würde Vitus die Situation ausnutzen und sich jetzt zu Annabella drehen. Würde er sich jetzt über sie beugen, ihren Kopf ins Kissen drücken und sie mit der Zunge küssen. Ihre Hände mit den seinen auf die Matratze pressen. Seinen Körper auf den ihren hieven und das verlangen, was er vermutlich schon lange begehrte.

Ihr Herz raste bei den wilden Gedanken. Annabella war willenlos, war ihm verfallen und sie hätte keine Chance, ihm oder ihrer Lust zu entkommen. Sie würde alles mit sich machen lassen, würde es zulassen. Dabei kannten sie sich kaum. Welche Leidenschaft hatte Vitus in ihr entfacht? Und vor allem wann - und wie? Und wieso er?

Regungslos lag Annabella da, konzentrierte sich darauf, sich abzuregen und keine falsche Bewegung oder Andeutung zu machen, die Vitus dazu animierte, sich - wie in ihrer Fantasie - auf sie zu stürzen.

Warum er das nicht tat? Mangelndes Interesse an Annabella konnte es kaum sein, immerhin hatte er sich schon ein paar Mal für sie zum Tonto gemacht, um ihre Aufmerksamkeit zu erhaschen.

Nachdem Vitus sich aus dem Bett gerollt hatte und Annabella die Beule an der Hose zwischen seinen Beinen sah, war ihr klar, dass es auch nicht an mangelnder Potenz lag. Es blieb nur noch eine Möglichkeit: Er wollte sie nicht bedrängen. Wollte nicht ihre - wie sie es genannt hatte - emotionale Ausnahmesituation ausnutzen.

Er war mehr Edelmann als Annabella ihm zuerst zugetraut hatte. Ein Charakterzug, der sie beinahe veranlasst hätte, ihn doch noch zurück ins Bett zu zerren.

Ihr Mund war trocken, als sie ihn anstarrte. Vitus stand am Bett und schloss die oberen Knöpfe, wobei er eine Halskette zurecht rückte. Dass er Schmuck trug, war ihr zuvor gar nicht aufgefallen. Grober Schmuck, bestehend aus einem Lederband und - soweit Annabella aus der Weite erkennen konnte - einem Holzanhänger.

Unwillkürlich deutete Annabella auf das Kettchen um seinen Hals. "Welcher Anhänger ist das?"

"Unwichtig", antwortete er und winkte sachte ab. Vitus richtete seinen Kragen und griff nach der Halsbinde auf dem Nachttisch. Das Koaholz war ein schöner Kontrast zu den rosafarbenen und weißen Streifen auf der glänzenden Tapete. "Wie es aussieht haben wir die Nacht überlebt. Von mir weißt du jetzt alles, was du wissen musst", sagte Vitus nüchtern, als würde er ein Protokoll vorlesen. "Sieh zu, dass dein Vater den Angriff nicht einleitet, sollte Nak'Umawea gefunden werden." Dann wandte er sich zum Flur. "Ich muss mich jetzt beim Prinzipal melden und meiner Arbeit nachkommen."

"Vitus!", rief Annabella ihm hinterher, immer noch die Satindecke um ihren glühenden Körper geschlungen. Irgendwie war sie froh und enttäuscht zugleich, dass er einfach so ging. "Du schuldest mir noch den Totenbericht."

Der Mythos von Tarragoss Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt