6. Paternoster und Markisen

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Durchgeschwitzt vom Tag hatte Vitus Annabella zunächst daheim abgesetzt. In der Zeit wusch sie sich und wechselte ihr Pfirsichkleid gegen ein beigefarbenes, auf das rosafarbene Blumen gestickt waren und dessen Ärmel bis zur Mitte des Unterarms reichten. Etwa zwei Stunden später zur Abenddämmerung holte ihr Verehrer sie wieder ab und führte sie durch die grauen Gässlein hin zum Voltolan-Platz, in dessen Mitte ein Springbrunnen mit Delfinskulpturen, umringt von Palmen, plätscherte.

Mit einem unterdrückten Grinsen zog Annabella eine Augenbraue in die Höhe, als sie erkannte, wohin Vitus sie führte. Der Güldene Hibiskus auf der anderen Seite des Platzes war die feinste und vor allem teuerste Gaststätte in Manava; er war also bereit, recht tief in die Tasche zu greifen. Ist ja auch das Mindeste.

Vor der Gaststätte wartete ein in schwarzweiß gekleideter Ober, der das Paar bemerkte und auf sie zutrat. "Ein Tisch für zwei?"

"Ja", antwortete Vitus und hob die Hand. "Aber bitte auf dem Balkon."

"Habt Ihr reserviert?"

Vitus nickte. "Auf Arlstein."

Annabella funkelte ihn von der Seite an. Er hatte geahnt, dass sie trotz des abenteuerlichen Nachmittags mit ihm ausgehen würde. War sie so leicht zu durchschauen?

Noch während sie überlegte, legte Vitus eine Hand auf ihren Rücken und schob sie in das kühle Gebäude. In der Wand am hinteren Ende verlief ein Paternoster, dessen Kabinen auf der rechten Seite nach oben fuhren.

"Im dritten Stock wird Euch ein Ober empfangen", sagte der Kellner und deutete zur Kabine.

Vitus neigte den Kopf. "Vielen Dank."

So richtig getraut hatte Annabella diesen Paternostern ja nie, wenngleich sie von der dahinter arbeitenden Technik fasziniert war. Doch diese könnte auch versagen und so wäre sie inmitten von zwei Stockwerken gefangen. Es wäre wenig damenhaft, sich mühselig aus der Kabine hinaus zu hieven und wie ein Käfer auf den Boden der nächsten Etage zu krabbeln.

Unwillkürlich kräuselte sie die Lippen. Nicht nur, weil sie nicht als unbeholfener Käfer enden wollte, sondern weil sie zum ersten Mal Vitus gegenüber sprachlos war. Immerhin war Annabella schon auf Rendezvous mit vermögenderen Männern gewesen - doch keiner von ihnen hatte sie auf den Balkon des Güldenen Hibiskus geleitet. Er machte sich ernsthaft Gedanken - und das verleitete sie dazu, sich ebenfalls Gedanken zu machen. War er ihre Aufmerksamkeit vielleicht doch wert?

Auf dem Balkon schützte ein schwarzes gusseisernes Geländer vor einem unfreiwilligen Absturz auf die Stoffmarkise des Restaurants. Von hier oben ließ Annabella ihren Blick über die Dächer von Manava schweifen. Die Sonne war bereits hinter den Klippen verschwunden, doch das Abendlicht brachte die glasierten Ziegel zum Leuchten. Palmen ragten zwischen den Gebäuden empor und ganz im Hintergrund glitzerte das Meer, dessen salziger Duft Annabella in die Nase stieg.

Vitus schob ihr einen geschmiedeten Stuhl mit rotem Polster zurecht, damit sie sich ans Geländer setzen konnte. Erst dann entledigte er sich seines schwarzen Jacketts, das er über die verschnörkelte Stuhllehne hängte, und stellte den Kragen seines Hemdes auf. Dann rückte Vitus seine azurblaue Halsbinde und die Brokatweste zurecht und nahm ihr gegenüber Platz.

Der Ober entzündete die Kerze auf dem Tisch und reichte die in Leder eingebundenen Speisekarten. "Darf ich Euch etwas zu trinken bringen?"

"Ein Glas Weißwein", erwiderte Annabella mit einem aufgesetzten Lächeln.

Vitus hob zwei Finger. "Dasselbe."

Der Ober verschwand und die beiden waren allein. Nun hatte sich Annabella heute schon daran gewöhnen können, allein mit ihrem Verehrer zu sein, doch irgendwie war die Atmosphäre nun eine andere. Was eine dämliche Kerze ausmachte, ihr warmer Schein spiegelte sich in seinen Augen.

Der Mythos von Tarragoss Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt