16. Schänken und Tänze

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Die Durchgangstür krachte hinter Annabella ins Schloss und sie bereute zutiefst, einen Fuß in den äußeren Ring gesetzt zu haben. Immer noch lag Vitus' Hand schützend um ihre Taille. Trotzdem kroch ihr die Angst am Körper hoch wie eine Spinne. Als würde Annabella die acht Beine auf ihrem Arm spüren, zog sich unter der imaginären Berührung ihre Haut zusammen und sie schüttelte sich.

Kein Kolonist mit gesundem Menschenverstand ging ins Makha-Viertel. Annabella hob ihre Hand zum Mund und sie musste sich innerlich ohrfeigen, um nicht an ihren Fingernägeln zu kauen.

Hätte Annabella nur eine halbe Stunde vorher nachgedacht und Vitus seine Arbeit machen lassen, wäre sie in der Innenstadt geblieben. Hätte sich damit begnügt, erst morgen mit ihm über diese Gestalten zu reden. Warum eilte es Annabella sosehr, mit ihm zu sprechen? War es die Neugier, die Angst oder der Überlebenswille, die sie zu völlig irrationalen Entscheidungen verführt hatten?

In ihrem Gedankenstrudel gefangen, nahm Annabella die veränderte Atmosphäre zunächst nicht wahr und ließ lediglich das Stadtbild auf sich wirken. An der ostwärts gebogenen Hafenpromenade ragten dickstämmige Feuerpalmen wie akkurat angebrachte, bauchige Zaunpfosten in die Höhe.

"Und? Überrascht?", fragte Vitus.

Ihr Blick schnellte zu ihm. Aus der Mimik seines markanten Gesichts konnte Annabella nicht lesen, worauf er hinauswollte. "Bitte?"

In seinen dunklen Augen spiegelte sich das Licht der gusseisernen Straßenlaternen, als er sie anblickte. "Überrascht, dass dich noch niemand überfallen hat?"

Kopfschüttelnd schnaubte sie. "Sehr lustig, echt!"

Als hätte er Annabella an die Gefahr erinnert, wanderte ihr Blick nun rastlos umher. Rechts von ihr lag, unterhalb der hohen Kaimauer, ein Sandstrand, der vom schwarzen Meer verschluckt wurde. Zu ihrer Linken standen Häuser aus breiten Holzbrettern, die manchmal gelb oder grün gestrichen waren. Die finsteren Gassen zwischen den Bruchbuden bereiteten ihr Sorgen. Banditen, Abhängige und anderes Gesindel konnten sich darin verstecken und auf ein Opfer warten.

Dann aber erklang das fröhliche Gezupfe einer Ukulele, was Annabella angesichts der schaurigen Umgebung grotesk erschien. Von der guten Laune vereinnahmt wippte ihr Kopf im Takt nach links und rechts und sie bekam große Augen, als sie den Ursprung der Melodie auf einer Dachterrasse entdeckte.

Zahlreiche Gäste - Kolonisten, die man unschwer an ihren feinen Anzügen oder ausladenden Kleidern erkennen konnte - saßen hinter einer hölzernen Balustrade im bunten Licht von Lampions. Der Geruch von gegrilltem Fisch und Fleisch hing in der Luft.

Eine Makha-Gaststätte, die den Kolonisten gerecht wurde. Dass so etwas überhaupt existierte? "Ist das unser Ziel?"

Der äußere Ring war wohl bei Weitem nicht so gefährlich, wie ihr seit jeher suggeriert worden war. In Sicherheit wog sie sich trotzdem nicht.

"Nein, wir müssen weiter", erwiderte Vitus.

Ein klein wenig Enttäuschung knabberte an Annabellas Gemüt. Zu gerne hätte sie sich in den Herdenschutz der Kolonisten begeben.

"Das hier ist die erste Gaststätte nach der Mauer. Hier werden keine Drogen umgeschlagen - zu groß ist die Gefahr einer Razzia", erklärte Vitus und führte sie zu einer Schänke weiter nördlich, die Gäste mit Trommeln, Gitarre und Piano anlockte. Die Melodie glich einem aus dem Takt geratetenen Herzschlag und zwang Annabella geradezu dazu, mit dem Gesäß zu wackeln. Es war so anders als die gediegenen Stücke, zu denen sie sonst tanzte.

"Zum Krummen Anker", las sie den Namen der Schänke vor, der auf einem über dem Eingang hängenden, verrosteten Anker stand und der von einer Gaslaterne an der Wand beleuchtet wurde. Die Schänke zog sich über zwei Stockwerke, wobei der Ursprung der Musik im Obergeschoss lag.

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