27.1. Nacht und Morgenrot

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Seine Frage ließ Annabella unbeantwortet. Zu peinlich war es ihr, vor Vitus einzugestehen, dass sie ihn bei sich haben wollte. Zu groß war ihr Stolz und die Angst, er könnte etwas hinein interpretieren, das nicht da war. Oder schon da war?

Stattdessen verharrte Annabella in der Umarmung und drückte sich an ihn. Erst, als ihre Beine schwach und ihre Augenlider immer schwerer wurden, löste sie sich von Vitus. 

"Möchtest du dich setzen?", fragte er. 

Sie wischte sich über die tränenverklebten Wangen, nickte und gemeinsam setzten sie sich auf das Kanapee. Annabella rutschte noch ein Stück an ihn heran, legte ihren Kopf an sein Schlüsselbein und schlang einen Arm um seinen Bauch.

Vitus atmete tief ein und hielt die Luft an. Das Pochen seines beschleunigten Herzschlags fühlte Annabella direkt an ihrer Wange. Es dauerte einige Sekunden, bis sich sein Brustkorb wieder senkte und Vitus schließlich seine Hand auf ihre Taille legte. 

Möglich, dass sie ihm falsche Signale sendete und möglich, dass es unfair war, was Annabella mit ihm tat, aber die Angst und die Sehnsucht nach Nähe und Schutz ließen im Moment nichts anderes zu. Und da Vitus gerade da war, war nun mal er das Opfer, das sie enttäuschen müsste.

Dann aber blitzte ein Gedanke auf, eine kurze Frage, die Annabella zum Zweifeln brachte. Würde sie dieselbe Situation zulassen, wäre Ricardo anstelle von Vitus hier? Sie kannte die Antwort und die warf sie gehörig aus der Bahn. Weder zu Ricardo noch zu einem anderen Mann würde sie Nähe suchen. 

"Erzähl mir was von dir", sagte Annabella schlicht, um sich von ihrem stürmischen Gefühlsleben abzulenken. Wenn er ihr was erzählte, würde ihr das vielleicht sogar beim Einschlafen helfen.

"Wieso?"

"Die Nacht ist lang und ich kenne dich kaum. Außer, dass du ein Sautonto bist, der mich immer wieder im Stich lässt."

"Ich wollte nicht … Ich wusste nicht, dass du auf mich angewiesen bist", rechtfertigte er sich lasch.

Annabella grunzte und stellte klar: "Ich bin auch nicht auf dich angewiesen. Jetzt erzähl mir was von dir. Du kommst doch aus Ellsey. Warum bist du von der schönsten Stadt der Welt in die Kolonie gekommen? Und was haben deine Eltern dazu gesagt, dass du gehst?"

"Meine Eltern …", begann Vitus gedehnt. "… wären vermutlich mitgekommen, wären sie nicht tot."

Für einen kurzen Moment blieb ihr die Spucke weg, doch ihr Gehirn überrumpelte Annabella mit Fragen, die nicht unbeantwortet bleiben durften. "Tot? Waren sie nicht etwas zu jung, um zu sterben?"

"Bei Mord spielt das Alter keine Rolle", entgegnete er nüchtern. Ganz der Kriminalbeamte.

Jetzt richtete sich Annabella auf und blickte ihm in die Augen, wobei sie ihre Lider kaum offen halten konnte. Die Müdigkeit überkam sie zusehends, doch die Neugier belebte ihre Aufmerksamkeit. Ihre langen Haare hingen an ihren Wangen herunter, als würden sie ein Eigenleben führen. "Sie wurden ermordet?"

Vitus nickte. "Mhm. Und mein Bruder auch … gewissermaßen."

"Was …?", hauchte sie und runzelte die Stirn. Ihre Mundwinkel zogen sich nach unten. "Das ist schrecklich."

"Ich weiß", sagte er, wieder äußerst nüchtern. "Ich vermisse sie jeden Tag, glaub mir, aber ich habe mich damit abgefunden. Nach fast zwanzig Jahren muss man das wohl auch."

Die Trauer, die er nicht mehr empfinden konnte, wühlte Annabella umso mehr auf. Er hatte allein auf der Welt zurechtkommen müssen. Ein Schicksal, das kein Mensch und schon gar kein Kind verdient hatte. In ihrem Mitleid kuschelte sie sich an seine Halsbeuge. Vielleicht schenkte ihm ihre Nähe Trost.

Nach einer Weile fragte sie: "Aber warum wurden sie ermordet?"

"Es war Raubmord, denke ich", sagte Vitus, hob mit einem Schulterzucken die Hand und legte sie wieder auf Annabellas Taille. "So wirklich weiß man es nicht, immerhin wurden die Mörder nie gefasst."

Annabella runzelte die Stirn. Er war Kriminalbeamter. Seinem natürlichen Instinkt folgend müsste er doch alles dafür tun, um den Fall zu lösen, oder? Aber dafür hätte er in Ellsey bleiben müssen, statt an das andere Ende der Welt zu reisen. "Aber was machst du dann in Manava? Liegt dir denn nichts daran, die Mörder zu finden?"

Vitus' Kinn ruhte an ihrer Schläfe und leicht schüttelte er den Kopf. "Ich war zu jung und ich musste damit abschließen. In Ellsey hat mich alles an sie erinnert und sobald ich alt genug war, bin ich in die Kolonie gekommen. Ich kann den Mord an meiner Familie ohnehin nicht mehr ungeschehen machen."

"Also hast du damit abgeschlossen?"

Vitus grunzte. "Ein guter Freund hat mal zu mir gesagt: Lass deine Vergangenheit nicht deine Gegenwart bestimmen."

"Das ist Tonto", erwiderte sie mit geschlossenen Augen. "Wer wären wir ohne unsere Vergangenheit?"

"Dass du das so siehst …" Seiner Stimme war eine leise Freude anzuhören. 

Mühevoll richtete sich Annabella wieder auf. "Wieso sollte ich es anders sehen?" 

"Unwichtig." Vitus winkte ab. "Und jetzt ab ins Bett mit dir, ich kann mir das nicht länger ansehen."

Annabella wurde kalt, als er sich von ihr löste und sich erhob. Bereitwillig nahm sie die Hand, die Vitus ihr anbot und sie durch den Flur hin zur einzig geschlossenen Tür, der Schlafzimmertür, führte.

Er wagte es nicht, diese Tür zu öffnen und einzutreten. Stattdessen drückte Annabella die kalte Messingklinke runter, löste sich von seiner Hand und entfachte das schummrige Licht der Nachttischlampe direkt neben einer Säule des Baldachins.

Als sie sich umwandte und auf das Bett setzte, stand Vitus mit verschränkten Armen im verschnörkelten Türrahmen und nickte ihr zu. "Wenn dich jemand töten will, ruf nach mir."

"Wo gehst du hin?"

"Wenn du nichts dagegen hast, schlafe ich auf dem Kanapee", antwortete Vitus und blickte in Richtung Salon. 

"Das Kanapee ist  unbequem", platzte es aus Annabella heraus. "Komm besser ins Bett." Und erst, als sie die Worte bereits gesprochen hatte und diese nicht mehr ungeschehen gemacht werden konnten, wurde ihr die Tragweite ebendieser bewusst. Ihr stieg die Hitze in die Wangen und ihr Herz hämmerte gegen ihren Brustkorb.

Vitus blinzelte mehrfach. "Bist du sicher?"

Schnell wandte Annabella den Blick ab, verdrehte die Augen und äußerte die erste Ausrede, die ihr einfiel: "Es ist ein Doppelbett und wenn du brav auf deiner Hälfte bleibst, schlag ich dir nicht den Schädel ein. Also die Trennlinie …", murmelte Annabella und deutete vage auf die Mitte der Matratze, ohne ihn anzusehen.

"Fein", erwiderte Vitus beinahe tonlos und trat ins Schlafzimmer. 
Annabella sprang auf und schob sich mit gesenktem Kopf an ihm vorbei zur anderen Bettseite. Sie schlüpfte unter die kühle Satindecke und starrte zum Fenster - bloß nicht zu Vitus. Wäre sie nicht so müde, würde sie die halbe Nacht grübeln, was sie sich dabei gedacht hatte, ihn so unverblümt in ihr Bett einzuladen.

Vitus räusperte sich. Statt dass er etwas sagte, ließ er die bleischwere, fast schon erdrückende Stille im Raum liegen.

Die Matratze senkte sich unter Vitus' Gewicht. Es raschelte noch kurz, bis Vitus an Ort und Stelle lag. Annabella unterdrückte ihr schweres Atmen, als sie seine Hände, die sich langsam, aber sicher um ihren Bauch schlingen würden, erwartete. Doch jede Berührung blieb aus. Vitus lag neben ihr - und er ließ sie in Ruhe. 

Und schließlich schlief sie ein. Die erste Nacht seit Langem, die Annabella mit einem Mann verbrachte. 

Der Mythos von Tarragoss Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt