Als die Kutsche inmitten des dichten Dschungels zum Stillstand kam, raffte Annabella ihren Rock zusammen, dessen Stoff je nach Lichteinfall zwischen perlweiß und dunkelorange glänzte.
Vitus erhob sich von der Sitzbank und bedeutete ihr, mit auszusteigen. Angesichts der hohen Luftfeuchtigkeit glaubte Annabella, sich im Schlund eines riesigen, grünen Ungeheuers zu befinden und sie nahm einen kräftigen Atemzug. Es roch nach nasser Erde, Moos und Rinde. Auf dem festgefahrenen Weg musste sie zwar keine Angst haben, dass ihr Kleid verschmutzte, doch achtete sie penibel darauf, nicht zu nah an die Böschung mit den zahllosen Schattengewächsen zu geraten, die sich am Stoff hätten verfangen können.
"Ah, die Tochter des Gouverneurs!", säuselte eine wohlwollende Stimme. Annabella wandte ihren Blick von den riesigen Pflanzenblättern ab und entdeckte im Schatten der Bäume fünf weitere Kutschen, die hinter ihr und Vitus stehen geblieben waren.
Ein älterer, kleiner Herr von dünner Gestalt mit schwarzem Anzug und Hut kam auf sie zu. Sein Haupthaar und sein voluminöser Schnauzbart waren bereits vollständig ergraut und ließen darauf schließen, dass er bald in Pension gehen würde.
"Dann seid Ihr sicher Herr Gotthard vasta Rax, nicht wahr?", fragte sie und ging ihm entgegen.
Der alte Mann nickte und streckte die Hand aus. "Bedauerlich, dass man mir ansieht, dass ich der Prinzipal der Gendarmerie bin. Aber so ist das nun mal im Alter."
"Euch sieht man das doch nicht an", erwiderte sie und nahm seine Hand. "Ich kenne Euch bereits von Anekdoten, die man sich in der Universität erzählt. Eurer sauberen Berichterstattung ist es zu verdanken, dass die Kolonialadvokaten die meisten Verbrecher ihrer Strafe zuführen können."
Eifrig schüttelte Herr Rax ihre Hand, wohl aus kindlicher Freude über ihr Kompliment. "Ihr seid zu gütig." Dann ließ er los und wandte sich im Schattenlicht des Waldes an Vitus. "Euer Plan scheint mir gewagt, doch bisher habe ich das in Euch gesetzte Vertrauen noch nie bereut."
Vitus genoss das Vertrauen des besten Kriminalbeamten und Prinzipals der Gendarmerie von Manava? Annabella glaubte ihm nicht, dass das hier eine Lehrstunde für sie werden sollte. Nein, Vitus wollte sie beeindrucken. Gerade fuhr er sich durch seine gescheitelten Haare, die an den Seiten kürzer geschnitten waren als am Oberkopf. Er wusste sich ins rechte Licht zu rücken. Trotzdem würde er ihren Ansprüchen nie genügen.
"Bereit?", fragte er.Ihre Augenbrauen hüpften in die Höhe. "Bitte?"
Vitus nickte zur Kutsche. "Einsteigen und so tun, als wärt Ihr meine Frau. Das bekommt Ihr hoffentlich hin?"
Annabellas Mund öffnete sich. "Eure Frau?"
Erschüttert suchte sie den Blick des Herrn Rax, der jedoch nur seinem Untergebenen beipflichtete. "So ist der Plan. Wir rechnen damit, dass der Drogenbaron, der den Lahschaverkauf in Manava steuert, heute anwesend sein wird. Wir müssen also zusehen, dass ein Lahschaverkauf im Beisein des Barons stattfindet und wenn das geschehen ist, können wir alle Anwesenden festsetzen. Ihr und Vitus gebt deshalb ein Ehepaar ab, das Lahscha kaufen möchte und wenn der Handel steht, greifen wir zu."
"Wir kaufen Lahscha?", fragte sie erschüttert.
"Genauso ist es. Wir müssen sie in flagranti stellen", erwiderte Herr Rax mit einem Nicken und klatschte einmal in die Hände. "Also gut, an die Arbeit."
Ohne weitere Fragen zu stellen und ohne sich darüber aufzuregen, dass sie als Lockvogel missbraucht werden sollte, stieg Annabella wieder in die aufgeheizte Kutsche. Erst jetzt bemerkte sie die Schnitzerei in der Rückwand, die das vereinfachte Wappen von Tarragoss zeigte: Einen Kolibri, der zwei Hibiskusblüten in den Krallen hielt. Anhand dessen hätte sie schon zuvor bemerken können, dass es sich um Kolonialeigentum handelte.
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Der Mythos von Tarragoss
Fantasy"Legt man sich mit den Ureinwohnern an, legt man sich mit der ganzen Insel an." * * * Die Südseeinsel Tarragoss ist die Heimat von Kolonisten, Ureinwohnern und einem unterdrückten Mischvolk. Im Pulverfass aus altem Hass, Verzweiflung und Rachegelüst...