Die feucht schimmernde Steinwand des Kerkers war Vitus' einziger Gesprächspartner. Eine Antwort gab sie zwar nicht, aber sie hielt Vitus die Treue. Damit er in der Dunkelheit nicht völlig durchdrehte, hatte ihm der alte Tarsan eine nicht unerhebliche Anzahl an Kerzen reingeschmuggelt. Stundenlang flackerte die Flamme und malte an die Wände surreale Schatten, die ein wenig wie Geistergestalten anmuteten.
Wenn Vitus wieder Geister sah, rieb er sich mit Zeigefinger und Daumen die Augen und machte sich bewusst, dass das hier der ungeisterhafteste Ort überhaupt sein musste. Als würden sich die Geister der Insel für eingesperrte Kolonisten interessieren. Die Kolonisten, die nur Unheil und Leid über die Eingeborenen gebracht hatten und weiterhin tun würden.
Hoffentlich schickt Wendelin den Boten, dachte Vitus und bettete sich um. Regelmäßig wechselte er vom Rücken zur Seite, manchmal sogar auf den Bauch, nur um sich aufzusetzen und gegen die Wand zu lehnen. Manchmal ging er auch ein paar Schritte, doch das Geräusch war ihm zu laut.
Ab und an traten die Wachmänner sogar an die Gitterstäbe und sprachen mit Vitus. Zumeist war es Luis, der sich mit ihm abgab.
"Wie geht's dir?", fragte der kurzgeschorene blonde Bursche.
"Blendend", erwiderte Vitus und rollte sich auf die Knie, um sich zu erheben. Das letzte Fünkchen Ehre trieb ihn dazu, vor seinem Gegenüber nicht wie ein Bettler zu sitzen. "Luis? Was ist eigentlich in der Nacht geschehen, als Stefano ermordet worden ist? Du hattest Wachdienst, nicht wahr?"
"Ich ähm, nun …"
Vitus winkte ab. "Schon gut." Mittlerweile hatte er seine eigenen Schlüsse gezogen. Er glaubte, dass Luis ein bestechlicher Gendarm oder vielleicht sogar auf Anweisung der Drogenbaronin in den öffentlichen Dienst getreten war, damit sie Kontakte in der Gendarmerie hatte.
"Ich bin nicht allein hier. Herr vasta Rax …", erklärte Luis und trat einen Schritt zurück, als sich Gotthart an das Gitter drängte.
"Lass uns allein, Junge", befahl der Prinzipal.
Sobald Luis fort war, umfasste Gotthart die Eisenstäbe mit beiden Händen und legte sein Gesicht dazwischen. "Nakoa", flüsterte er. "Ich weiß nicht, was ich sagen soll, außer, dass mir es mir unendlich leid tut."
Wieder winkte Vitus ab. "Ich wusste ja, worauf ich mich einlasse, als ich dem äußeren Ring den Rücken gekehrt habe. Du hast mich ja eindringlich auf die Risiken hingewiesen. Aber … wie haben sie mich enttarnt?"
Gotthart schluckte. "Die alte Thalbach hat Beweise gebracht."
"Sie hat mir damals, nach der Ermordung ihres Neffen, gedroht, sie würde dafür sorgen, dass ich entlassen werde. Tja, die Frau sollte man beim Wort nehmen", entgegnete Vitus mit einem schwachen Lächeln. Dass sie selbst vom Kerker aus noch so mächtig war…
"Sie hat nachgewiesen, dass der echte Vitus Arlstein kurz nach seiner Ankunft auf Tarragoss einer Krankheit erlegen ist", erzählte Gotthart und mutmaßte: "Sie muss die Aussage des Doktors, der damals den Totenschein ausgestellt hat, besorgt haben."
Vitus' Existenz basierte auf dem Tod eines anderen Jungen. Eigentlich war der sogar eineinhalb Jahre älter gewesen als Nakoa, aber bis zu Annabellas negativen Kommentaren bezüglich seines Alters hatte er sich darüber nie Gedanken gemacht. Nakoa hatte damals nur Glück gehabt, dass er mit neunzehn Jahren schon groß genug war, um als unterentwickelter Einundzwanzigjähriger durchzugehen.
Gelinde gesagt war insgesamt der Tod des echten Vitus Arlstein für ihn ein Glücksfall gewesen und im Stillen dankte er, der Makha-Junge, ihm heute noch dafür, dass er seinen Platz hatte einnehmen können. Natürlich dankte der falsche Vitus auch Gotthart, der das Risiko auf sich genommen und ihm die Ausweispapiere mit dem königlichen Siegel beschafft hatte.
"Solange du nicht in Schwierigkeiten gerätst", murmelte Vitus, darauf bedacht, nicht zu laut zu sprechen, damit sie niemand belauschen konnte.
Gotthart schüttelte den Kopf. "Weißt du noch? Wenn du auffliegst, dann bist allein du fällig", wisperte er.
Natürlich erinnerte sich Vitus daran. Der Prinzipal hatte vorgesorgt, dass sein Name nicht mit Vitus' Existenz in Verbindung gebracht werden würde. Immerhin konnte der Makha-Bursche das Ausweisdokument von Vitus Arlstein auch gestohlen haben, sodass Gotthart aus dem Schneider war. Zum Glück.
"Da ist noch etwas." Verlegen kratzte sich Gotthart an der Glatze, dann fuhr er durch seinen Haarkranz. Was er sagen wollte, fiel ihm offensichtlich schwer. "Da du die Verhaftung von Regina vasta Thalbach vorgenommen hast - jemand, der gar kein Gendarm sein durfte -, hat sie erwirkt, dass ihr Verfahren ausgesetzt wird."
Vitus' Eingeweide hoben sich, als hätte man ihn in einen Abgrund gestoßen. "Sie … ist auf freiem Fuß?"
Mit einem Nicken senkte der Prinzipal seinen Blick. "Es tut mir so leid. Vorerst ist ihre Verhaftung unwirksam, aber wir arbeiten daran, sie wieder einzubuchten."
"Die Beweise bei ihr?", fragte Vitus mit zittriger Stimme. Er hatte so lange nach dem Drogenbaron von Manava gesucht, hatte seine Wurzeln verleugnet und Machalla alleingelassen und wozu?
Gotthart kaute auf seiner Unterlippe. "Ihre Advokaten stellen alles in Frage, weil du an diesem Fall mitgearbeitet hast. Jemand, der nicht hätte ermitteln dürfen. Das Gesetz ist im Bezug auf die Beschäftigung von Makha eindeutig: Sie dürfen keine Berufe der Kolonisten ausüben - dürfen nicht in den Kolonialdienst berufen werden. Wenn das doch passiert, dann ist das komplette Verfahren fehlerhaft und kann ohne große Rechtskenntnisse angefochten werden."
"Was …?" Vitus legte eine Hand an seine Stirn. Schwärze umhüllte sein Sichtfeld und ein Schwindel zog an seinen Beinen, der ihn umhertaumeln ließ. Alles umsonst! "Wenn ich schuldig gesprochen werde, dann …?"
"Dann ist Regina endgültig frei", antwortete Gotthart wahrheitsgemäß. "Sie wird vorsichtiger sein und jemanden als Drogenbaron einsetzen, bei dem wir keine Verbindung vermuten werden. Und alles wird so weitergehen wie bisher."
Vitus stieß gegen die Kerkerwand, als seine Beine ihren Dienst quittierten und er nach unten rutschte. "Das darf nicht wahr sein. Kannst du das nicht irgendwie verhindern? Im Inselrat das Gesetz ändern oder irgendwas."
"Tut mir leid, Nakoa", flüsterte der Prinzipal, so als wollte er geheimhalten, Vitus' echten Namen zu kennen. "Ich sehe kaum eine Chance. Ich kann einen Kolonialadvokaten zu dir schicken, wenn du mit ihm irgendwelche Möglichkeiten besprechen willst. Ich selbst habe keine Idee."
Vitus sah seine Knie von links nach rechts wiegen, als er den Kopf mit leerem Blick schüttelte. "Keinen von den Kolonialadvokaten. Die sind gegen mich. Schicke nach Annabella vasta Mangold. Sofern sie noch mit mir reden will, ist sie meine einzige Chance."
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Der Mythos von Tarragoss
Fantasy"Legt man sich mit den Ureinwohnern an, legt man sich mit der ganzen Insel an." * * * Die Südseeinsel Tarragoss ist die Heimat von Kolonisten, Ureinwohnern und einem unterdrückten Mischvolk. Im Pulverfass aus altem Hass, Verzweiflung und Rachegelüst...