41. Allein

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Annabella hatte in ihrem ganzen Leben noch nie im Dreck gelegen. Mit ihrer Einkerkerung am heutigen Tage hatte sich dies nun geändert. Schon nach wenigen Stunden in diesem Loch war ihr hochgeschlossenes Kleid nicht mehr wiederzuerkennen.

Wenigstens war es nur eins der biederen Stücke, das sie ruinierte, als sie sich im Staub von einer Seite auf die andere wälzte. Biederes hatte Annabella schon immer gehasst, immerhin war sie nie die Vorzeigedame gewesen, die sie als Gouverneurstochter hätte sein sollen.

Jetzt, da sie Vitus' Freispruch erzwungen hatte, überlegte sie, ob und wie sie sich von ihrem Geständnis zu Gustavs Tötung exkulpieren könnte. Die einfache Behauptung, dass ihr Geständnis eine Lüge und die Akte gefälscht war, würde ihr niemand glauben, wenngleich es die Wahrheit war.

Was hatte sich Annabella auch dabei gedacht, sich zu opfern? Einen Makha zu retten, der sich auf den Weg machen und die Ulakas warnen sollte, war ihr am heutigen Morgen noch richtig erschienen. Jetzt aber, da die Dunkelheit sie heimsuchte und sie in den Schatten die Nachtwanderer lauern sah, wenngleich da keine waren, wollte Annabella ihre Entscheidung rückgängig machen.

Obwohl, warum eigentlich? Ob sie nun durch den Strick oder durch die Nachtwanderer sterben würde, war sowieso einerlei. Große Hoffnungen, das Ende dieses Jahres zu erleben, hatte sich Annabella seit der Akalua-Mine sowieso nicht gemacht.

All das raubte ihr die Kraft und kostete ungleich mehr Nerven, sodass sie noch nicht einmal mehr Lust hatte, über ihre Verteidigungsstrategie zur bevorstehenden Vorverhandlung nachzudenken.

Lange Zeit döste Annabella vor sich hin, bekam Essen hingestellt, einen Krug voll Wasser, schlief, aß, trank. Wie hatte Vitus seine Zeit im Kerker so unbeschadet überstanden? Ihr war es nach zwei Tagen schon zu viel und sie sehnte das Ende herbei.

Gefühlt hatte sie schon Wochen hier verbracht und sie wunderte sich, warum überhaupt niemand zu Besuch kam. Weder ihre beiden Schwestern, noch ihr Vater oder - und hiervon war sie am meisten enttäuscht - ihre Tante oder Vitus.

Dieser Sautonto könnte wenigstens auf ein kleines Dankeschön zu ihr kommen und fragen, wie es ihr erging, doch er war wie von Naturgeistern entführt. Andererseits war es Annabella selbst gewesen, die ihn auf die Reise nach Nak'Umawea geschickt hatte. Vielleicht hatte er sich ohne ein Wort des Abschieds aufgemacht?

Doch was war mit Olivia? Warum ließ sie sich nicht blicken? Sie war ihre einzige Vertraute, ihre einzige Freundin. Doch jetzt ließ Olivia ihre Nichte im Stich, ohne ihr einen Rat für ihre Verteidigung gegeben zu haben, ohne irgendetwas, mit dem sich Annabella aus ihrem bevorstehenden Todesurteil herauswinden könnte.

Oder warum machte ihr Vater seinen Einfluss nicht geltend und schmuggelte sie aus dem Kerker? So etwas passierte doch ständig, zumindest bei den richtigen Verbindungen.

In dem Moment fühlte Annabella in ihrem Inneren eine Leere, die ihr Herz zerbrach. Die Menschen, die ihr am wichtigsten waren, hatten sich in ihrem schwersten Moment von Annabella abgewandt. Jetzt, da sie überhaupt nicht mehr in das Weltbild der feinen Gesellschaft passte, war scheinbar das dickste Blut nichts wert.

Und für diese Menschen im Gouverneurshaus hatte sie sich auf ein Rendezvous mit einem Kriminalbeamten eingelassen, auf dass er die Ermittlungen wegen des Mordes sein lassen würde. Annabella grunzte schwach. Der Kriminalbeamte, für den sie ihr Leben zerstört und einen Mord auf sich genommen hatte.

"Hoffentlich war es nicht umsonst", murmelte sie mit dem Gedanken, dass wenigstens die Ulakas verschont blieben.

Sie drehte sich auf die Seite. Tränen liefen über ihren Nasenrücken und tropften zu Boden. Im Traum wurde sie vom Gefühl der Einsamkeit heimgesucht, als ihr Unterbewusstsein Annabella eine Begegnung mit ihrer Mutter vorspiegelte.

Annabella war wieder die Zwölfjährige, die Blumen gepflückt und sich diese von ihrer Mutter ins wellige Haar hatte flechten lassen. Es war nicht nur eine Vorspiegelung, es war eine Erinnerung. Eine Erinnerung, in der ihre Welt noch heil und voller Lebensmut gewesen war.

Wenige Wochen später jedoch hatte Annabella nach ihrer Mutter gesucht. Die erste Pause vom Heimunterricht hatte sie immer mit Lydia verbracht. Meistens hatte sie ein Tischdeckchen gehäkelt oder in einem Buch gelesen. Doch ihre Mutter war nicht wie üblich im Salon gewesen.

Annabella hatte im Garten gesucht und nach ihr gerufen, doch ihre Mutter war nicht auffindbar. Zuerst hatte Annabella gedacht, ihre Mutter wäre nur in die Stadt zu einem kleinen Bummel gegangen. Vielleicht würde sie sogar eine kleine Überraschung für die fleißig lernende Tochter mitbringen.

Doch nachdem Lydia auch dem Abendtisch ferngeblieben war, an dem sonst immer die Familie Mangold gemeinsam gespeist hatte, hatte in Annabella eine leise Ahnung gedämmert. Im Beisein von Inga und Gustav hatte Wendelin seinen drei Töchtern eröffnet, dass ihre Mutter sie verlassen hätte und nicht mehr wiederkehren würde. In diesem Moment war Annabellas Welt zerbrochen und sie war in einen Abgrund gestürzt.

Wie konnte eine Mutter ihre Kinder allein zurücklassen? Die Enttäuschung von damals vermengte sich mit der Enttäuschung von heute. Wie konnte eine Familie die eigene Schwester, Tochter und Nichte im Stich lassen?

Im Traum wimmerte Annabella, verstand sie doch nicht den Grund, warum Lydia von Tarragoss über Nacht geflohen war.

"Nein", wisperte Annabella einem Schiff entgegen, das dem Horizont entgegensegelte. "Bring meine Mutter zurück", sagte sie im Traum als Zwölfjährige. Doch als dieses nicht anhielt, schrie Annabella: "Nein!"

Vom eigenen Geschrei geweckt fuhr Annabella schweißgebadet hoch.

Licht blendete sie. Sie hatte ihre Kerze doch gar nicht brennen lassen? Doch die Lampe schwebte vor den Gittern. Ihr Herzschlag beschleunigte sich. Kam doch jemand zu Besuch? Ließ man sie doch nicht allein?

Annabella kniff die Augen zusammen, um ihr Gegenüber zu erkennen.

Als dessen Gesicht in das warme Licht eintauchte und ihren Besucher enthüllte, stockte ihr der Atem. Ganz und gar nicht der, den sie erwartet hatte.

"Annabella", hauchte er und trat einen Schritt zur Seite. "Ich hol dich da raus."

"Aber ...", setzte sie zum Protest an. Wollte sie wirklich ihre Ehre aufgeben und mit Ricardo vasta Thalbach aus dem Kerker fliehen?

***

Und mit dieser Entscheidung, die Annabella hier treffen muss, teile ich das Buch und schließe die erste Hälfte ab (und nein, das wird hier kein förmlicher Abschied).

Die Gründe für die Teilung sind einfach
- ich will mein aktuelles Cover unbedingt behalten.
- Aber da gibt es ein Cover ... in das ich himmlisch verknallt bin.

- UND ICH MUSS ES UNBEDINGT VERWENDEN *-*
Mein Dank geht an dell_a_story  (ich hab immer noch keine Ahnung, wie man es zustande bringt, dass ein Cover ein Buch perfekt widerspiegelt. Aber dieses Cover ist für mich einfach zum Dahinschmelzen).

Ich werde ggf. nochmal ein Kapitel hier veröffentlichen, sobald ich mit der Veröffentlichung des zweiten Teils begonnen habe^^

Der Mythos von Tarragoss Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt