14. Gendarmerie und Gouverneurshaus

86 11 278
                                    

Der rosafarbene Samt ihres Kanapees rieb allmählich Annabellas Haut auf. Zu lange hatte sie sich darauf hin und her gewälzt, hatte gezittert und geschluchzt und sich nicht vor die Tür ihres Appartements gewagt. Noch nicht einmal ihre Querflöte oder ihr Studium hatten es vermocht, sie auf andere Gedanken zu bringen.

Gerade saß Annabella mit angezogenen Knien auf dem harten Polster und wippte vor und zurück. Mit leerem Blick starrte sie das Limonenmarmeladenbrot vor sich auf dem niedrigen Marmortisch an, dessen geschwungene Beine golden im Gaslicht der Wandlampen glänzten. Ihr war zu übel, als dass sie etwas hätte essen können.

Zwar wollte Annabella an etwas anderes denken, an ihr Diplom und ihre Zukunft, doch sofort wurden ihre Gedanken so finster wie die vor den Fenstern herrschende Nacht - so schwarz wie die Augen dieser Menschen.

An die mehrstündige Heimfahrt in der Kutsche erinnerte sie sich kaum. Die Botschaft dieser Gestalt hatte Annabella wie ein Faustschlag ins Gesicht getroffen. Seitdem war sie in einer Blase gefangen und hatte von ihrer Außenwelt nur noch das Nötigste wahrgenommen.

Ihrer Kräfte beraubt hatte sie sich noch nicht mal mehr auf den Beinen halten können. Dunkel erinnerte sie sich daran, dass Vitus sie wie eine Braut in ihr Appartement im zweiten Stock getragen hatte. Weder hatte sie sich bei ihm bedankt noch nachgefragt, welche Kreaturen das gewesen waren. Oder warum Vitus deren Sprache beherrschte.

Das Trommeln in ihrer Erinnerung jagte ihr einen eiskalten Schauer über den Rücken. Es wurde immer lauter und unnachgiebiger, sodass sich Annabella die Ohren zuhielt. "Lasst mich doch einfach in Ruhe!", fluchte sie mit brüchiger Stimme.

Doch das Trommeln klang unter ihren Händen nur dumpfer und Annabella senkte die Arme. Das Geräusch war gar nicht in ihrem Kopf, so wie schon dutzende Male zuvor, sondern es kam von der Tür. Jetzt bemerkte sie auch, dass mit der Morgendämmerung ein neuer Tag angebrochen war.

"Annabella! Ich weiß, dass du da bist. Mach schon auf", rief Olivia und hämmerte direkt weiter. Typisch Richterin.

"Hör auf!", forderte Annabella und zog sich auf die zittrigen Beine. "Ich komm ja schon." Dabei kippte sie erstmal zur Seite, wobei sie sich an der Lehne des Kanapees abfing. Sie holte tief Luft und wartete ein paar Sekunden, ehe sich der schwarze Schleier vor ihren Augen lüftete und sie wieder klar sehen konnte.

Barfuß tappte Annabella über den rosafarbenen weichen Veloursteppich im Flur hin zur Tür und drehte den Schlüssel herum. Das Klacken des Schlosses war das lauteste und klarste Geräusch seit Tagen und ging ihr durch Mark und Bein. Schließlich öffnete sie die Tür und blickte Olivia entgegen.

"Bei allen Naturgeistern, wie siehst du denn aus?" Sofort stürzte ihre Tante mit rauschendem Rock in den Eingangsbereich. Offenbar hatte sie Angst, dass Annabella sie wieder aussperren würde.

Doch dazu hatte Annabella gar keine Kraft, verriegelte stattdessen die Tür und folgte Olivia in den kleinen Salon. "Beschissen schätze ich."

"Da schätzt du richtig", bestätigte ihre Tante. Ihr mausgraues Kleid wallte unter ihren langen Schritten, als sie zu einem der holzgerahmten Fenster ging und dieses öffnete.

Als wären die rosafarbenen Samtvorhänge zum Leben erwacht, blähten sich diese in der Brise auf. Frische Morgenluft, durchsetzt von Meersalz, Blütenpollen und Pferdemist, strömte in das hell tapezierte Zimmer.

"Du lässt dich gehen. Ist das dein Frühstück vom vergangenen Wochenende?", fragte sie und nickte auf das Brot.

"Das hat Vitus geschmiert, nachdem wir von Akalua heimgekehrt sind", entgegnete Annabella schulterzuckend, setzte sich auf das Kanapee an der Wand und legte ihre Hände in den Schoß.

Der Mythos von Tarragoss Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt