36.2. Die einzige Chance

63 11 126
                                    

Eines Tages hatte er plötzlich vor ihrer Tür gestanden: Vitus' Kater, den Annabella damals, bevor sie in den Krummen Anker gegangen waren, gesehen hatte. Jetzt beruhigte sie Loahs Schnurren und das weiche Fell umhüllte ihre Finger samtig, als sie ihn streichelte.

Gleichzeitig erinnerte es Annabella daran, dass sich sein Herrchen nicht mehr um Loah kümmern konnte und ihre Unterlippe bebte.

"Vitus", hauchte sie und mit diesem Namen quollen die Tränen über. Heiß rannen sie über ihre Wangen. Annabella zog die Nase hoch, doch half es wenig. Ihr blieb nur, Rotz und Wasser zu heulen.

Die Welt war so ungerecht. Diese Gesellschaft war ungerecht. Warum saß jemand, nur weil er die vermeintlich falschen Wurzeln hatte, im Gefängnis? Dagegen konnte jemand wie die alte Thalbach frei herumlaufen. Annabella fühlte sich schäbig, weil sie das studierte, was im Moment in höchster Ungerechtigkeit umgesetzt wurde. Ihre Beine waren bleischwer, sodass sie sich noch nicht mal erheben konnte, als es an der Tür ihres Appartements klopfte.

Jetzt wusste sie auch, was Vitus mit der von ihm erlebten Ungleichbehandlung gemeint hatte. "Das erzähl ich dir irgendwann, vielleicht", hatte er gesagt. Dabei hatte Annabella erlebtes Unrecht doch für sich gepachtet. Sie hatte nicht glauben können, dass er als Mann schon Unrecht am eigenen Leib hatte erfahren müssen. Natürlich hatte sie nicht bedacht, dass er gar kein Kolonist sondern ein Makha war.

"Erzähl ich dir irgendwann, vielleicht", wiederholte sie seine Worte, wobei sie ihren Mund kaum öffnete. Vitus hatte ihr von seiner Abstammung erzählen wollen. "Irgendwann, vielleicht." Irgendwann, wenn er ihr vertraut hätte.

Sein Verbrechen - die falsche Abstammung zu haben - war keines, das man leichtfertig jemandem anvertraute. Immerhin konnte es die ganze Existenz zerstören, wie nun zu beobachten war.

Trotzdem ärgerte es Annabella, dass Vitus erst von den Gendarmen in die Enge hatte getrieben werden müssen, um mit der Sprache rauszurücken. Dann, als es sowieso schon egal war, weil er genau gewusst hatte, dass sie es erfahren würde.

Die Erkenntnis traf sie wie ein kalter Dolchstoß ins Herz. Vitus hatte ihr nicht vertraut. Nun gut, wer vertraute schon jemandem aus der Oberschicht, allen voran der Gouverneurstochter, die Jurispundenz studierte? So eine wäre doch die Erste, die ihn verraten würde.

"Die Gouverneurstochter" murmelte Annabella, den Kater im Schoß streichelnd. Die Gouverneurstochter, die nur Dank eines Makha noch auf freiem Fuß war. Es war grotesk.

Wieder das markdurchdringende Klopfen an ihrer Tür. Alle Muskeln zogen sich in Annabella zusammen. Sie wollte allein sein und weinen: Weinen um den Mann, der an ihre Unschuld bezüglich Gustavs Ermordung geglaubt hatte.

"Annabella, lass mich rein!"

Jetzt horchte sie auf. "Tante Olivia?" Mit dem Kater auf dem Arm erhob sich Annabella nun doch. Die Papiere - Exmatrikulationsbescheinigung und Ehevertrag mit Ricardo vasta Thalbach -, die neben ihr auf dem Kanapee lagen, versteckte sie besser wieder im Bücherregal, das einer Rechtswissenschaftsstudentin nur würdig war. Vitus' Geschenk der Freiheit sollte nicht umsonst sein.

Achtlos stopfte Annabella jene Papiere, die ein Motiv an Gustavs Mord strickten, zwischen die Lederbände von Baurecht und Wasserrecht. Alles nur, damit sie den Kater nicht loslassen musste. Loah war das Einzige, das ihr ein bisschen Trost schenkte.

Barfuß tappte sie über den rosafarbenen Teppich und warf einen Blick in den goldgerahmten Spiegel im Eingangsbereich. Annabella zuckte zusammen. Ihre Haare standen in alle Richtungen ab, als hätte der Kater sie in den letzten Tagen mit seiner Zunge geputzt. Ihre Augen waren verwässert und glichen mattem Bernstein. Über ihren Wangen zogen sich breite Salzspuren von angetrockneten Tränen. Der Versuch, diese am Fell des Katers abzureiben, um sich salonfähig zu machen, scheiterte kläglich.

Der Mythos von Tarragoss Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt