Während Annabella in ihr Gesetzbuch starrte, schweiften ihre Gedanken zu der gemeinsamen Nacht mit Vitus und in ihrem Magen schienen hunderte Schmetterlinge aufzuflattern. Ergangen war es ihr mit noch keinem Mann so, dass allein ein Gedanke an ihn ihr Herz zum Toben brachte.
Vielleicht fühlte sie sich angezogen von dem Verruchten, das Vitus umgab. Als wohlgesittete Tochter sollte sie sich davon eigentlich abgestoßen fühlen, aber gerade das hatte seinen Reiz.
Annabella dachte an sein markantes Gesicht, auf dem das spitzbübische Grinsen eigentlich keinen Platz hatte, und wieder hob sich ihr Magen, als würde sie aus ein paar Metern Höhe von den Klippen ins Meer springen.
Letztlich wandte Annabella den Blick vom Gesetzestext ab, stützte ihre Stirn in beide Hände und starrte die Schreibtischplatte an. Unter einem tiefen Seufzen hob sich ihr Brustkorb, als sie sich eine Tatsache endlich und ohne Wenn und Aber eingestand. Ich bin verliebt.
Irgendwie fürchtete sie sich vor dem Gouverneursfest, bei dem Annabella zwangsweise auf Vitus treffen und vermutlich die Funken fliegen würden. Denn dass es ihm nicht anders ging und er ernsthafte Gefühle für Annabella hegte, war selbst für sie nicht mehr zu übersehen.
***
In den folgenden Tagen hatte sich Annabella auszureden versucht, dass Vitus eine Chance bei ihr hatte und zählte jeden Missstand auf. Er war zu alt, er war nur Beamter, der Adelstitel fehlte und im Stich hatte er sie auch noch gelassen.
Doch der Gedanke an die Neumondnacht, die sie gemeinsam in ihrem Bett verbracht hatten, trieb ihr immer noch die Schamesröte ins Gesicht - oder besser gesagt ihre lüsternen Gedanken am Morgen danach.
Dies war insoweit ungünstig, als dass Annabella auf einem steinigen Podest in der Ecke des säulengestützten Ballsaals stand. Schließlich spielte sie auf ihrer Querflöte mit einem kleinen Ensemble das Empfangslied für das Gouverneursfest.
Andererseits war ihre Gesichtsfarbe einerlei - niemand der ankommenden Gäste schenkte der Kapelle neben der akustischen auch noch die visuelle Aufmerksamkeit. Dafür aber behielt Annabella den Eingang genau unter Beobachtung wie eine Katze das Mauseloch.
Bei Rolf vasta Graudorns Erscheinen im Saal fühlte sie einen Schlag in die Magengrube. Dank dieses Tontos wollte die halbe Innenstadt einen Rachefeldzug gegen die Ulakas. Würde Nak'Umawea gefunden werden … Annabella schüttelte sich innerlich. Ihr blieb nur zu hoffen, dass Wendelin den Inselrat von den Nachtwanderern überzeugen, den Angriff zurückhalten und einen Boten aussenden konnte.
Ihr war schon die Idee gekommen, die Ulakas vor den Soldaten zu warnen, jedoch sprach sie kein Ulakisch. Außerdem war sie mit ihrem Studium und den Nachtwanderern genug belastet. Vielleicht endete das Ganze auch ohne ihr Zutun positiv.
Als Werner vasta Thalbach mit seiner Frau eintrat, wandte sich Annabella ab und blickte aus den Sprossenfenstern am anderen Ende des Saals in den Garten, wo Fackeln im Wind der Abenddämmerung züngelten. Sie wusste, dass Ricardo folgen würde und dem wollte sie weder ihre Aufmerksamkeit schenken noch Hoffnungen machen.
Im Augenwinkel sah Annabella die Thalbachs zu deren Platz gehen und sich setzen. Erst dann wandte sich Annabella, in Erwartung der Gendarmen, wieder dem von grauen Säulen gestützten Saaleingang zu. Die Wände waren kahl, dafür war das Deckenfresko, das den tarargossischen Himmel und das Meer zeigte, hübsch anzusehen.
Dann trat Gotthart vasta Rax ein. Ihm folgten die Kommissare und Inspektoren, viele bedeutend älter als Vitus. Dass er einer von ihnen war, sprach für seinen Ehrgeiz.
Als sie schließlich Vitus erblickte, setzte ihr Herz einen Schlag aus, nur um dann davon zu fliegen. Gut, dass ihre Finger das Lied von alleine spielten, sonst hätte sie ihre Zerstreuung auch noch kundgetan.
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Der Mythos von Tarragoss
Fantasy"Legt man sich mit den Ureinwohnern an, legt man sich mit der ganzen Insel an." * * * Die Südseeinsel Tarragoss ist die Heimat von Kolonisten, Ureinwohnern und einem unterdrückten Mischvolk. Im Pulverfass aus altem Hass, Verzweiflung und Rachegelüst...