38.2 Der Prozess

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Am letzten Verhandlungstag fühlte sich Vitus bei seinem Weg durch den Gerichtssaal, als würde er zur Schlachtbank gehen. Er war sich sicher, das martialische Urteil zu ernten, das Machalla ihm vorausgesagt hatte.

Stühle schabten über den Boden wie grollender Donner, als sich die Anwesenden setzten. 

Nachdem ein weiterer Zeuge ausgesagt hatte, legte die Richterin ein Blatt Papier zur Seite und blickte zum Kolonialadvokaten. "Einen haben wir noch, Herr vasta Sacher", murmelte Olivia. "Dann haben wir es hinter uns."

Der Angesprochene kratzte sich an seiner hohen Stirn und winkte ab. "Na bitte."

"Das Hohe Gericht ruft Frau Annabella vasta Mangold in den Zeugenstand."

Vitus' Augen wurden groß und sein Blick schnellte zum Ausgang.
Schließlich schwangen die mit blumigen Intarsien verzierten Flügeltüren des Gerichtssaals auf und mit hohen Absätzen stolzierte Annabella zum Zeugenstand. 

Sie hatte ihn nicht vergessen? Bei ihrem Anblick schlug Vitus' Herz schneller. Weil sie seine letzte Hoffnung für seine Drogenermittlungen oder weil er in sie verliebt war, wusste Vitus nicht. Vermutlich war es eine Mischung aus beidem, die seinen Bauch kribbeln ließ.

Annabella strich den Rock ihres grauen, hochgeschlossenen Kleides glatt, setzte sich und drückte ihren Rücken durch. Nach den Formalien über Name und verneinter Verwandtschaft zum Angeklagten reckte Annabella das Kinn. Mit dem kleinen Hütchen auf ihrem Kopf und der emotionslosen Miene sah sie wahrhaft aus wie eine Advokatin.

Im Kolonialdienst wäre sie bestens aufgehoben und Vitus war froh und stolz zugleich, dass er die Mordermittlungen gegen sie im Keim erstickt hatte. Diese verbohrte, manchmal taktlose, junge Frau gedeckt zu haben, war das einzig Richtige gewesen.

"Fräulein vasta Mangold", sagte die Richterin von ihrer erhobenen Position auf der reich beschnitzten Kanzel. Jedermann musste zu ihr aufsehen. "Ihr wolltet aufgerufen werden. Hat der Kolonialadvokat Fragen an die Zeugin?" Olivia wandte ihren Kopf zur rechten Saalseite.

Der ergraute Mann mit Brille aus kleinen, runden Gläsern war der Vertreter der Kolonie. Sein Blick war stechend und voller Entschlossenheit. Generell wirkte er wie jemand, der noch nicht viele Niederlagen hatte hinnehmen müssen. "Noch nicht. Mir ist nur schleierhaft, weshalb Eure Nichte hier aussagen will, werte Richterin." 

"Glaubt mir, Herr vasta Sacher. Mir ist es selbst ein Rätsel", betonte Olivia, stülpte die weiten Ärmel ihrer glänzend blauen Richterrobe hoch und wandte sich wieder an Annabella. "Was habt Ihr zu diesem Fall beizutragen?" Nichts an ihrem Tonfall ließ darauf schließen, dass gerade ihre Nichte im Zeugenstand saß. Professionell, distanziert und unterkühlt. Eigentlich vereinte Olivia vasta Mangold alle Eigenschaften in sich, die einer objektive Urteilsfindung bedurften.

Annabella neigte sich zur Seite und legte ihre rechteckige Ledertasche auf den Tisch. Sie schob die beiden Riegel auf, öffnete den Deckel und griff hinein.

Vitus spannte sich an. Im Saal war es so ruhig, dass man die vielbesagte Stecknadel hätte fallen hören, hätte es just in diesem Moment jemand darauf angelegt.

Mit einem Räuspern klopfte Annabella die Seiten einer Gendarmerieakte gerade und drückte ihren Rücken noch stärker durch als ohnehin schon. "Ich …", sagte sie mit kratziger Stimme und verhaspeltete sich.

Für Vitus ein klares Zeichen ihrer Nervosität und Unsicherheit. Ihr Plan musste riskant sein, wenn er sie derart aus der Fassung brachte.

Noch einmal räusperte sich Annabella und begann von vorne. "Ich möchte das Hohe Gericht vor all den Zuhörern im Saal fragen, ob es der Tatsache entspricht, dass eine Verurteilung des Angeklagten zu einem Straferlass bei allen laufenden Ermittlungen, bei denen Herr Vitus Arlstein mitgewirkt hat, führt." 

Der Mythos von Tarragoss Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt