18. Der Verflossene

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Es bereitete Annabella seelische Schmerzen, sich ihrem Verflossenen an den Hals zu werfen und sich über seine schlechten Witze zu freuen. Ricardo hatte sich schon immer für einen Komiker gehalten. Damals wie heute hatte Annabella nur der Höflichkeit wegen gelacht.

Der Fol-Kokos, spendiert von Vitus, hatte zwar halbwegs ihre Sinne benebelt, doch Annabella war sich bewusst, dass sie soeben neue Hoffnungen in Ricardo anheizte, die so schnell nicht mehr erlöschen würden.

Wieder und wieder würde er ihr Blumen schicken - so wie in den Wochen nach ihrer Trennung. Unzählige Briefe würden hereinflattern, die sie ungelesen wegwerfen würde. Und wozu? Für den Totenbericht ihres Großvaters, den sie aus der Welt wissen wollte.

Würde die Welt von Gustavs geplanter Exmatrikulation seiner Enkelin und von ihrem Ehevertrag mit Ricardo erfahren, und würde dann auch noch bestätigt werden, dass Gustav ermordet worden war, wäre Annabella die Hauptverdächtige.

Dabei hatte sie so etwas Niederträchtiges wie Mord gar nicht nötig. Sie hätte sich in die Universität hinein- und aus dem Ehevertrag herausgeklagt. Immerhin hatte sie gelernt, wie das ging, aber Annabella durfte kein Risiko eingehen.

So ließ sie sich von Ricardo Fol-Orange spendieren, was fast wie vergorener Nektar schmeckte. Zumindest stellte sie sich den Geschmack von verdorbenem Saft so vor.

Annabella schlug die Augen auf und funkelte ihn an. "Und, was machst du hier im äußeren Ring?"

Er blickte an ihr vorbei und nickte zu den Leuten, die hinter ihr standen. "Eine kleine Feier mit Freunden, mehr nicht."

"Was gibt es denn zu feiern?"

"Ach", gab Ricardo mit einem Schulterzucken zurück und richtete den Knoten seiner Halsbinde, die farblich zu seiner weinroten Brokatweste passte.

Plötzlich fühlte sich Annabella in ihrem karminroten Kleid unwohl, immerhin wollte sie nicht wegen ungünstiger Farbwahl als seine Partnerin angesehen werden.

"Nichts Besonderes", antwortete Ricardo. "Ein paar erfolgreiche ... Vertragsabschlüsse."

Annabella legte den Kopf schief. "Was denn für Verträge?" Ihr Verflossener war ein Arbeitsverweigerer, der sicherlich keine Verträge zum Abschluss gebracht hatte und auch nie bringen würde. Alles, was Papier anbelangte, war ihm ein Graus, es sei denn, er konnte es mit Farbe beschmieren. Am wohlsten fühlte sich Ricardo vor einer Leinwand mit einem Pinsel in der Hand, sein Hemd mit Farbtupfen bekleckert.

Am Anfang ihrer Beziehung hatte Annabella das noch charmant gefunden, doch schon bald hatte sie erkannt, dass er - entgegen seiner Verpflichtung als Mietkutschen-Erbe - niemals ernsthaft arbeiten würde. Geschäftsuntüchtig eben.

"Also das ... sind Verträge von hoher Vertraulichkeit", gab er zurück und fuhr sich durch seine braune Haarwelle, die den Schimmer der Lampions auffing und rot glänzte. "Ich denke nicht, dass ich dir davon erzählen kann."

Hohe Vertraulichkeit. Das hörte sich verdächtig an. Vielleicht konnte Annabella ihm einige Informationen entlocken, indem sie ihn provozierte. Immerhin wollte sie Vitus auch etwas bieten, wenn er schon mutwillig den Totenbericht als Einsatz brachte. Bedächtig nickte Annabella und lächelte falsch. "Ah, so ist das. Du hast also keine Ahnung, weswegen heute gefeiert wird."

Die Fassade eines geschäftstüchtigen, jungen Mannes bröckelte und Ricardo sackte in sich zusammen. "Nun gut, um ehrlich zu sein: Ich bin nur der Kutscher und hab die Leute herumgefahren."
Nicht die Antwort, die sie erwartet - und erhofft - hatte.

Er kippte sich seinen Fol-Orange in die Kehle und stellte die Kokosschale verbittert zurück auf den Tresen. "Meine Eltern zwingen mich, diese Leute mit der Kutsche rumzufahren, weil sie mir sonst mein Taschengeld und mein Appartement vorne am Hama-Weg streichen."

Der Mythos von Tarragoss Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt