17. Häscher und Verfolger

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Unbeirrt streckte Annabella ihm die Hand entgegen und starrte Vitus aus goldenen Augen an. "Ist das ein Handel?"

Vitus presste die Lippen zusammen und runzelte die Stirn. Gotthart sagte ihm immer, Vitus würde eine Grimasse ziehen, wenn er zu stark nachdachte. Vermutlich war seine Fratze im Moment furchterregender als die der Kreaturen an der Akalua-Mine.

Einerseits war der Bericht des Leichenbeschauers der einzige Beweis für Gustavs Ermordung.

Andererseits hatte er Annabella ein Versprechen gegeben. Außerdem wollte Vitus den Drogenring endlich zerschlagen. Wenn er hier im Krummen Anker die Kontaktmänner ausfindig machen könnte, würde er seinem Ziel ein gutes Stück näher kommen.

"Gut", bestätigte Vitus, nahm Annabellas weiche, feuchte Hand und drückte diese. Das mulmige Gefühl, den Mord am Gouverneur unaufgeklärt zu lassen, nagte an seinem Gewissen. Amtsmissbrauch hieß es im Fachjargon, doch diese Gedanken schob er geflissentlich beiseite. "Einverstanden. Du kriegst den Bericht übermorgen in meiner Schreibstube", sagte Vitus und löste seine Hand.

Annabella nickte. "Und du fertigst keine Zweitschrift an", fügte sie mit erhobenem Zeigefinger an.

Warum wohl war sie so darauf bedacht, das einzige Exemplar des Totenberichts in die Finger zu bekommen? Sein Verdacht ihr gegenüber erhärtete sich abermals. Vitus zuckte mit den Schultern. "Sollte sich von selbst verstehen." Schließlich nickte er in Ricardos Richtung. "Und jetzt los. Ich sehe mich hier im Krummen Anker noch ein wenig um, aber ich bin in der Nähe."

Annabella wandte sich um und mit sanftem Druck schob Vitus sie in Ricardos Richtung. Sogleich verschwand sie zwischen den Menschen. Vitus stellte sich auf Zehenspitzen und überblickte die Köpfe, sodass er Sekunden später Annabella am Tresen wieder auftauchen sah - direkt neben Ricardo.

Als der Annabella bemerkte, schenkte er seiner Verflossenen das strahlenste und dümmste Lächeln, das Vitus je gesehen hatte.

Ein wahrhaft verliebter Tonto. Vermutlich war Ricardo noch lange nicht über die Trennung hinweg, und dass Annabella so plötzlich neben ihm stand und mit ihm redete, würde neuerliche Hoffnungen in ihm schüren. Dass sie sich zudem noch lang machte, um Ricardo ein paar Küsschen auf die Wangen zu drücken, würde seine Sehnsucht nicht lindern.

"Sehr gut!", flüsterte Vitus, als er die beiden aus sicherer Entfernung, verborgen hinter den Menschen, beobachtete.

Bei einem Abstand, der für ein unverheiratetes Paar in der Öffentlichkeit als unschicklich galt, schielte Annabella ihrem Verflossenen entgegen. Davon, dass sie ihn eigentlich verabscheute, war nichts mehr zu sehen.

Spätestens seit der Bestattung des Gouverneurs wusste Vitus, dass Annabella eine gute Schauspielerin und eine noch bessere Lügnerin war. Die ganzen Alibi-Tränchen, das Schluchzen und das schwarze Gewand in den Tagen nach seinem Tod - alles hatte die perfekte Fassade der trauernden Enkelin gebildet.

Und wenngleich Annabellas Bezirzerei gegenüber Ricardo gespielt war, so war es für Vitus ein Schlag in die Magengrube. Die beiden so aneinanderhängend zu sehen, weckte eigene Sehnsüchte in ihm. Zu gerne wollte Vitus an Ricardos Stelle stehen - wollte von ihr betört und verführt werden nach allen Regeln der Kunst.

Dazu würde es nie kommen, zumindest dann nicht, wenn er Annabella immer wieder sitzenließ oder sie für seine Ermittlungen benutzte. Aber was das anging, konnte Vitus nicht aus seiner Haut. Zu bedeutsam war sein Ziel, zu schwer wog die Vergangenheit.

Und doch war Annabella für ihn mehr als nur eine Mordermittlung.
"Ein schöner Tonto bist du", murrte Vitus, der seine Verehrteste in die Arme eines anderen Mannes getrieben hatte.

Der Mythos von Tarragoss Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt