"Beeindruckende Vorstellung."
Vitus zuckte so heftig zusammen, dass er beinahe aus seinem Sessel gefallen wäre. Sein Kopf schnellte in die Höhe. Im Türrahmen stand Annabella.
Ein Anblick, der Vitus heiß und kalt werden ließ und er schluckte. "Danke."
Sie huschte herein und schloss hinter sich die Tür zur kahlen Schreibstube. Ihr pastellorangefarbenes Kleid, das er schon vom gemeinsamen Ausflug ins Wokolo-Tal kannte, war der einzige Farbtupfer. "Woher weißt du, dass die alte Hochbrunn säuft?"
Vitus deutete vage auf sein Gesicht. "Wegen der Kupferrose. Man sieht die Adern an Wangen und Nase. Ist bei Alkoholikern immer so. Setz dich doch." Er deutete zu dem ungemütlich aussehenden Stuhl gegenüber seines Schreibtischs.
"Danke", gab Annabella mit einem Nicken zurück und setzte sich. Trotz ihres geringen Gewichts knarrten die Stuhlbeine.
Er lehnte sich in seinem schwarzen Sessel zurück und führte die Fingerspitzen beider Hände aneinander. "Dann erzähl mal, was du aus deinem Verflossenen rausbekommen hast und ob du ihm Einhalt gebieten konntest."
"Glaub mir: Ricardo war nicht das Problem", sagte Annabella und fuhr voller Hohn fort: "Im Gegensatz zu dir ist er nämlich bis zum Schluss bei mir geblieben, obwohl es fast seinen Tod bedeutet hätte."
"Ich …", begann Vitus und stockte. Er wollte nicht, dass Ricardo eine bessere Stellung bei ihr hatte als er selbst. "Es tut mir leid. Ich hab die Zeit mit dir mehr als genossen …", beteuerte er mit dünner Stimme. Konnte es sein, dass er sich gerade zum Tonto machte? Statt einfach den Mund zu halten, faselte Vitus weiter: "… und meinetwegen hätten wir für immer weiter tanzen können, aber diese Leute und die Drogen…"
"Ja ja, die Drogen", warf Annabella mit einem Augenrollen ein.
Vitus seufzte. Die Drogen hatten sich schon zwischen ihn und Machalla gedrängt. Ob es überhaupt eine Chance für ihn und Annabella gab?"Man könnte meinen, du seist selbst abhängig, so sehr vergisst du alles andere um dich herum", warf sie ihm vor.
Damit hatte sie nicht unrecht. Aber wie sollte er die Geister der Vergangenheit je hinter sich lassen, wenn das Ganze für immer so weiterginge?
"Wie dem auch sei", fuhr Annabella fort. "Nachdem mich ein halbes Dutzend Makha vergewaltigen wollte, mir dann aber ein anderer Makha geholfen hat, wollten mich irgendwelche Kolonisten entführen. Ricardo ist zu mir zurückgekommen und wir sind ins Meer geflüchtet, um zur Innenstadt zu schwimmen."
"Schwimmen? In die Innenstadt?", fragte Vitus und runzelte die Stirn. "Aber die Strömung."
Annabella reckte das Kinn. "Genau das hat Ricardo auch gesagt, und doch ist er bei mir geblieben. Ich wäre beinahe krepiert, aber er hat mich Mund zu Mund beatmet und mir eine Herzmassage gegeben." Sie legte eine Hand an ihre Brust. "Genau hier."
Wollte sie Vitus unter die Nase reiben, dass ihr Verflossener ihre Lippen mit den seinen berührt hatte? Und dass er eins ihrer sekundären Geschlechtsorgane in der Hand gehabt hatte? Wollte sie Vitus damit eifersüchtig machen?
"Ich weiß, wie Wiederbelebungsmaßnahmen funktionieren", sagte er unter einem Stöhnen und rieb sich die Nasenwurzel.
Ihre Augen funkelten, als sie die Arme verschränkte. "Er hat mir das Leben gerettet - nachdem ich ihn für dich ausgehorcht habe. Und als Dank dafür hab ich ihn abgewiesen und ihm erneut das Herz gebrochen."
Empfand sie so etwas wie Mitleid für ihren Verflossenen? Vitus zuckte mit den Schultern. "So ist das Leben. Als Mann sollte er eigentlich gewöhnt sein, den Frauen hinterherlaufen zu müssen. Warum sollte es ihm anders gehen als mir?"
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Der Mythos von Tarragoss
Fantasy"Legt man sich mit den Ureinwohnern an, legt man sich mit der ganzen Insel an." * * * Die Südseeinsel Tarragoss ist die Heimat von Kolonisten, Ureinwohnern und einem unterdrückten Mischvolk. Im Pulverfass aus altem Hass, Verzweiflung und Rachegelüst...