8. Advokaten und Festsetzungsbefehle

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Olivia fasste sich ans Kinn und blickte zur holzvertäfelten Decke, von der eine eisengeschmiedete Lampe gerade so hoch über dem Schreibtisch hing, dass man sich im Stehen nicht den Kopf daran stieß. "Er hat dich auf eine Lehrstunde mitgenommen und seine Razzia gefährdet, nur um dich zu beeindrucken, und dann hat er dich sitzenlassen?"

Annabella legte ihren Kopf schief. "Warum seine Razzia gefährdet?"

"Studierst du Jura oder nicht?", fragte ihre Tante. "Ich wäre mir aus dem Stegreif nicht sicher, ob du als Jurastudent berechtigt bist, um an einem solchen Ermittlungsverfahren mitzuwirken."

Jetzt ging auch bei Annabella ein Licht auf. "Du meinst, meine Anwesenheit bei der Razzia ist ein Verfahrensfehler?"

Olivia nickte mit zusammengepressten Lippen. "Möglich wär's. Wobei der Rax sicher ein Schlupfloch gefunden hat, um deine Anwesenheit bei den Verhaftungen zu rechtfertigen." Sie holte tief Luft, um sich ein Beispiel aus den Fingern zu saugen. "So schlimm wie ein Ulaka, der als Gendarm arbeitet und Kriminelle verhaftet, wird es schon nicht sein." Immerhin war es nur Kolonisten erlaubt, in den Kolonialdienst zu treten. Die Beschäftigung eines Nicht-Kolonisten war verboten und wurde als Verfahrensfehler eingestuft, was zur Nichtigkeit der Ermittlungsergebnisse führte.

"Trotzdem hättest du nicht mit diesem Gestörten ausgehen sollen, aber du wusstest es ja besser."

Annabella verschränkte die Arme. "Ich bin kein kleines Kind mehr und sicher nicht gekommen, um mir eine Moralpredigt anzuhören."

Mit hochgezogener Augenbraue sah ihre Tante sie an. "Aber du erzählst mir davon, weil du einen Rat möchtest, oder? Dann hör mir zu. Er hat dich erpresst, seine Arbeit gefährdet und sitzen gelassen und das ist Grund genug, sich nicht mehr um ihn zu scheren."

Annabellas Fuß wippte rastlos auf und ab. Warum war der Rat ihrer Tante nicht der, den sie hören wollte?

Olivia stöhnte und raufte sich ihre dunkelbraunen Haare. "Du willst nicht begreifen, dass er offenbar nicht das Interesse an dir hat, wie du dachtest - und jetzt willst du ihm beweisen, dass ..." Sie konnte ihre Vermutung nicht in Worte fassen. "Ist es wie bei einem Kind, für das das Spielzeug am ansprechendsten ist, das es nicht haben kann? Ist für dich dieser Arlstein das Sinnbild eines Spielzeugs, das du nicht bekommst?"

"Jetzt mach aber einen Punkt! Ich ..." Annabellas Finger glitten zu ihrem Mund. Sie hatte keine Ahnung, was sie eigentlich wollte. Einerseits war sie beeindruckt von Vitus, dass er ihr gestern nicht plump an die Wäsche gewollt hatte und es für ihn offenbar Wichtigeres gab als eine Frau. Andererseits war sie zutiefst gekränkt, weil er sie so billig abserviert hatte. "Ich mag das Engagement, das er in sein Amt legt. Mehr nicht."

Das dunkelbraune Leder des Ohrensessels knarzte, als Olivia ihre Beine übereinanderschlug. "Bedenke, dass er als ein möglicher Nachfolger von Gotthard vasta Rax als Prinzipal der Gendarmerie gehandelt wird. Und das mit - wie alt ist er? Fünfundreißig Jahren? Er macht seinen Beruf wohl sehr gut."

"Dreiunddreißig", korrigierte Annabella und kaute auf der Wangeninnenseite, als sie überlegte. "Seine Arbeit wird immer vorgehen, oder?

"Annabella!", zischte ihre Tante ermahnend. "Du denkst doch nicht ernsthaft darüber nach, dich wieder mit ihm zu treffen?"

Eigentlich war es besser, wenn sie sich als potenziell Verdächtige im Mordfall Gustav vasta Mangold von einem Kriminalbeamten fernhielt. Vitus würde es leicht fallen, sich Annabellas Motiv zusammenzureimen, würde er einmal die Indizien hierfür in die Finger bekommen. Annabella zuckte mit den Schultern. "Ich will ihn nur treffen, um ihn ebenfalls sitzen zu lassen." Ihr gekränkter Stolz wollte gerächt werden. Ob sie ihre Rache wirklich in die Tat umsetzen oder die Sache auf sich bewenden lassen würde, würde ihr Gemütszustand in den nächsten Tagen entscheiden.

Der Mythos von Tarragoss Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt