37.1. Eine Abmachung

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"Bei Dagar, Vitus!" Annabella stürzte an die Gitterstäbe, die sie mit beiden Händen umfasste. "Geht's dir gut?"

Er hob seinen Kopf, fuhr sich durch seine schmalzigen Haare und blickte sie aus trüben Augen, unter denen sich dunkle Ringe gebildet hatten, an. "Ging mir nie besser", erwiderte Vitus. "Trotzdem würde ich dir raten, mir nicht zu nahe zu kommen. Ich hab seit zehn Tagen nicht mehr gebadet."

"Vitus", murmelte Annabella und holte ihre Aktentasche, die sie eigentlich für die Universität verwendete, hervor. Trotz des schlechten Lichts erkannte sie seine eingefallenen Wangen. "Ich hab dir Paprikateigtaschen mitgebracht."

Er lächelte müde. "Woher weißt du denn, dass ich die mag?"

"Im Güldenen Hibiskus war das deine Vorspreise, weißt du noch?" Mit einem Rascheln holte sie eine Papiertüte raus, in die das Essen gepackt worden war, und steckte sie durch die Gitterstäbe.

Er schüttelte ungläubig den Kopf. "Das hast du dir gemerkt?" Vitus rollte sich auf die Knie und krabbelte auf allen Vieren vorwärts. Dabei zitterten seine Muskeln so stark, dass es selbst für Annabella offensichtlich war, dass ihm jegliche Kraft fehlte.

"Danke", keuchte er.

"Deine Katze füttere ich auch. Und wenn ich mir dich so ansehe …"

Gerade in diesem Moment riss Vitus seinen Mund so weit auf, als hätte er sich den Kiefer wie eine Schlange ausgerenkt, die sich mit ihrem ganzen Körper über die Paprikateigtasche stülpte.

"… dann muss ich dich öfter besuchen kommen und dir was zu essen mitbringen", vollendete Annabella ihren Gedanken.

"Meine Katze?", fragte Vitus zwischen zwei Bissen. "Du meinst den schwarzweißen Kater? Ich hab ihn seit meiner Abwesenheit nach dem Anker nicht mehr gesehen. Ich dachte, er sei davon gelaufen."

"Er stand plötzlich vor meiner Tür."

Vitus aß weiter und setzte sich im Schneidersitz auf den staubigen Boden. Seine gute Anzughose war zerschlissen und löchrig - sie war einfach nicht gemacht für einen längeren Aufenthalt im Dreck. Dreckig: Nichts anderes war dieser Kerker. Und hierher verdammte man einen verdienten Beamten, der den Drogenring lahmgelegt hatte.

Regina vasta Thalbach war nach der Verhaftung des ermittelnden Beamten zwar wieder auf freiem Fuß, aber zumindest hatten laut Aussage seiner Kameraden keine neuen Drogen Manava erreicht. Es herrschten strengere Kontrollen von Gefährten jeder Art - insbesondere der Thalbach-Kutschen.

"Ich fürchte nur, du wirst nicht allzu oft zu mir kommen dürfen. Und um ehrlich zu sein bin ich froh, dass du überhaupt gekommen bist." Zum Ende hin wurde Vitus immer leiser.

Annabella wollte nicht glauben, was er sagte, und ging in die Hocke. "Aber wieso sollte ich denn nicht zu dir kommen?"

"Weil ich ein Makha bin", antwortete Vitus und wischte sich mit dem Handrücken das Olivenöl vom Mund.  

Annabella schob eine Hand durch die Gitterstäbe, machte ihren Arm lang und berührte Vitus' Wange mit den Fingerspitzen. "Das spielt für mich keine Rolle", wisperte sie.

Vitus neigte seinen Kopf ihrer Hand entgegen, schloss unter der zarten Berührung seine Augen und seufzte. Sie fehlte ihm offenbar mindestens so sehr, wie er auch ihr fehlte. Nach ihrer kurzen Flucht in eine Traumwelt, war es Vitus, der sie mit großen Augen anstarrte und sie in die Realität zurückholte.

"Eigentlich habe ich nach dir schicken lassen, um dich um etwas zu bitten."

Annabellas Augen weiteten sich. "Was?"

"Es geht um, nun, um meine Ermittlungen zu Regina vasta Thalbach. Wie du weißt, ist sie frei. Wenn ich schuldig gesprochen werde, wird das Verfahren ihr gegenüber fallengelassen und sie kommt ohne Konsequenzen davon. Es geht mir nicht darum, dass du einen Weg findest, dass ein Makha freigesprochen wird. Es geht darum, dass du einen Weg findest, dass meine Ermittlungsergebnisse nicht nutzlos auf dem Misthaufen landen."

Ihre Wangen wurden warm und ihr Bauch flatterte wie ein Segel im Wind. "Du willst mir dieses Vertrauen entgegenbringen?"

"Du bist die Einzige, von der ich weiß, dass sie nicht gegen mich ist", erwiderte Vitus mit einer Ernsthaftigkeit in der Stimme, die ihr einen Schauer über den Rücken jagte. "Die Kolonialadvokaten wollen mich vermutlich lebenslänglich wegsperren, weil ich sie als Makha an der Nase herumgeführt habe. Die freien Advokaten werden sich ihre Reputation nicht damit zerstören, einen Mischling zu vertreten. Und damit bist du die Einzige, der ich genug Ahnung zutraue, irgendetwas zu bewirken."

Gedankenverloren nickte Annabella. In ihrem Kopf exerzierte sie bereits bestimmte Gesetzesstellen durch. Eine Idee hatte sie noch keine, doch hoffte sie inständig auf eine Regelungslücke, die sie nutzen konnte. Eine, vor der noch nicht mal ihre Tante gefeit war. "Ich werde alles tun. Ich verspreche es."

Vitus zwang sich zu einem Lächeln. "Danke." 

Sein Blick verriet ihr, dass Annabella seine letzte Hoffnung war. Sie wollte und durfte ihn nicht enttäuschen. Doch die Zweifel daran, ihm helfen zu können, nagten an ihr wie Mäuse an einem Käselaib. Am liebsten hätte Annabella diesem Wachmann die Schlüssel gestohlen und wäre mit Vitus durchgebrannt. Einfach nur um sicherzugehen, dass er sein Leben nicht im Kerker fristen musste. 

In den Sekunden des Schweigens versank Annabella in seinen tintenblauen Augen, sodass sie gar nicht mehr daraus auftauchen wollte. Diese Augen, hervorgegangen aus der gewaltsamen Vermischung von Blutlinien. Kaum zu fassen, was die Eroberer den Eingeborenen angetan hatten - und was letztlich das Ergebnis war. Ein Mann, aufrichtig und verrucht, rechtschaffen und kriminell. Vitus vereinte all die Gegensätze und war dabei ein wunderbarer Mensch.

Schließlich räusperte er sich. "Wie war die letzte Neumondnacht?"

"Fünfzehn weitere Tote", erwiderte Annabella. "Es werden immer mehr."

"Mit jedem Leben, das sie nehmen, werden die Nachtwanderer stärker", bestätigte Vitus und ließ sich mit der Schulter gegen die Steinwand fallen. "Bleib in den Neumondnächten einfach daheim."

Annabella grunzte. "Freiwillig gehe ich da sowieso nicht mehr raus." Für sie war es ohnehin verwunderlich, dass sie noch keinem Nachtwanderer zum Opfer gefallen war. Immerhin lag dieser Fluch auf ihr. Doch da die Morde allesamt außerhalb der Innenstadt stattgefunden hatten, wagte Annabella, sich innerhalb der Mauer sicher zu fühlen. 

"Da fällt mir was ein." Noch einmal fasste sie in ihre Tasche. "Ich hab dir Kerzen mitgebracht, damit du unbegrenzt Licht hast. Und dieses Buch."

"Die Mythen von Aina Hanau", las Vitus den Titel. "Danke." 

"Ich weiß, vermutlich ist das ziemlich langweilig, aber …", sagte Annabella und kaute auf einem ihrer Fingernägel.

"Vielleicht finde ich darin irgendeinen Hinweis."

Allzu lange dauerte Annabellas Besuch ohnehin nicht mehr, denn Luis scheuchte sie mit der Aussage weg, dass die Zeit abgelaufen war.

Annabella spürte eine plötzliche Enge in ihrer Brust, als würde ihr jemand mit beiden Händen die Luft aus den Lungen pressen. Noch nie war ihr Herz so schwer wie in dem Moment, als sie sich Vitus zuwandte. "Ich muss gehen", hauchte sie, weil ihre Stimme Dank des dicken, schmerzenden Knotens in ihrer Kehle versagte.

"Danke, dass du gekommen bist", flüsterte Vitus mit verräterisch glänzenden Augen.

Nun fühlte auch sie selbst, wie heiße Tränen an ihren Wangen hinunterrannen und eine salzige Spur hinterließen. Von Luis auf die Beine und zum Kerkerausgang gezogen, behielt Annabella Vitus' Zelle so lange wie möglich im Blick.

Wer wusste, wann sie ihn wiedersehen würde? Ob sie je wieder in Freiheit aufeinandertreffen würden - je ein Paar sein könnten?

Etwas mehr als zehn Jahre trennten sie voneinander. Das - und eine grundlegend andere Abstammung. In welcher Welt könnten die beiden je zusammen sein?

Aber bevor Annabella eine Antwort auf diese Frage bekäme, würde sie alles tun, damit Vitus' Ermittlungen gegen die alte Thalbach nicht umsonst wären.

Der Mythos von Tarragoss Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt