37.2. Eine Abmachung

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Annabellas lodernde Entschlossenheit war schnell erloschen. Zwischen den ausgefransten Seiten und den zum Teil verschwommen Buchstaben entdeckte Annabella schlicht keine sichere Möglichkeit, um Vitus' Ermittlungsergebnisse zu retten. 

Noch dazu verzögerte sich der Tag des Urteilsspruchs stetig nach hinten, weil wichtige Zeugen zum Teil nicht vorgesprochen hatten und neu geladen werden mussten. Dadurch blieb Annabella zwar mehr Zeit, um sich eine Lösung auszudenken. 

Allerdings lief das Ganze mittlerweile Gefahr, dass ihre erste Prüfung und der Urteilsspruch auf den selben Tag fallen würden. Allmählich setzte sich Annabella damit auseinander, eine Wahl zwischen ihrem Diplom und Vitus treffen zu müssen. 

Ob er erwartete, dass sie das, worauf sie seit ihrer Schulzeit hingearbeitet hatte, für ihn wegwarf? Ganz nebenbei war noch nicht mal sicher, dass ihre Paragraphenkette, die sich Annabella aus den Fingern gesaugt hatte, irgendetwas nützen würde. Vermutlich hatte sie einen Denkfehler und ihre Überlegung war null und nichtig.

Einen ihrer Dozenten wollte Annabella aber nicht fragen, weil die sich ausmalen könnten, wofür ihre Paragrahpenkette genutzt werden sollte. Am Ende würde Annabella als Makha-Freund abgestempelt werden und selbst in den Kerker wandern.

Wenn sie schon ihre Zukunft wegwarf und sie vor Gericht für Vitus aussagte, dann müsste ihr Gerede auch Hand und Fuß haben. Die bloße Aussage, dass das Makha-Gesetz überholt sei, gehörte nicht dazu und würde Vitus am Ende gar nicht helfen. 

Die Zeit verstrich. Annabella war hin und hergerissen und der Zwiespalt schien sie in der Mitte zu spalten. Sie wollte Vitus ja helfen, aber wie sollte sie das anstellen? Es sei denn ... Annabella kaute auf ihren Fingernägeln und warf einen bangen Blick zu ihrem Bücherregal.

Noch am Vortag ihrer Abschlussprüfung versuchte sie, alle Gedanken an Vitus beiseite zu schieben - was nicht gerade einfach war, da sein Kater in ihrem Schoß schnurrte, während sie lernte. Als würde Loah ihr ein schlechtes Gewissen machen wollen. 

"Tut mir leid, Loah. Aber ich muss, wenn dann, am letzten Verhandlungstag aussagen, damit mein Gerede auch Wirkung zeigt." Wenn alles gut ging, wäre der Urteilsspruch erst nächste Woche, wenn sie ihre Prüfung bereits abgelegt hätte. "Olivia wird sich bestimmt noch etwas Zeit lassen." Es war eine vergebene Hoffnung.

***

Am Abend vor ihrer Abschlussprüfung ging Annabella in ihr Stammrestaurant am Brückenkopf des Wokolo-Stroms, wo sie vom Lokalbetreiber - wie jeden Tag - den neuesten Stand der Verhandlung erfuhr. Filipo setzte sich ihr gegenüber an die steinerne Brüstung. Der Schirm über ihnen leuchtete wegen den Flammen in den Fackelkörben karminrot.

"Heute waren einige Gerichtsdiener hier, die für morgen den Abschluss der Arlstein-Vorverhandlung vorausgesagt haben", sagte Filipo. Auf seiner Glatze spiegelten sich die Kerzen.

Während Annabella ihren Krabbensalat aß, verschluckte sie sich beinahe, doch versuchte sie, ihre Fassung zu wahren. Sie durfte Vitus nicht im Stich lassen, indem sie noch nicht mal im Gerichtssaal erscheinen würde. Aber welchen Sinn hätte es? Annabella würde ihm nicht helfen können.

Es sei denn, sie wählte die radikale Variante. Dann wäre es auch egal, ob sie die Prüfung ablegte oder nicht. Als Annabella darüber nachdachte, rauschte der Wokolo-Strom laut in ihren Ohren, obwohl dieser nur gemütlich vor sich hinplätscherte.

Zuhause fütterte Annabella den Kater, der sie sehnsüchtig erwartet hatte. Danach ging sie in ihren Salon. Sie schluckte, als sie zwischen Baurecht und Wasserrecht die Papiere hervorzog, die Vitus' Freiheit garantieren - ihr selbst aber ihre Zukunft kosten würden.
Annabella wägte ab. 

Der Mythos von Tarragoss Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt