19. „Es geht um Dad, richtig?" (3)

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Das nächste Mal als sie wach wurde, war es bereits hell. Immer noch regnete es, aber es war kein Gewitter mehr zu hören. Wenn Lucia es richtig deutete, stand die Sonne bereits relativ weit oben, was ihr sagte, dass es Mittagszeit war.
Ihr Schädel brummte und ihr Körper frierte als hätte sie bei Minusgraden draußen geschlafen. Wo hatte sie sich nur reingebracht. Warum war sie so dumm gewesen?
Auf den Rücken liegend, blickte sie nur zwischen den Baumkronen hindurch. Die Regentropfen perlten nur so von ihrer durchsogenen Kleidung ab.
Ein weiterer Tropfen und sie hatte einen Entschluss gefasst. Sie muss hier weg. Nicht nach Hause, aber irgendwo anders hin unter die Brücke oder so. Oder ein leerstehendes Haus. Es war nicht so, dass sie ihre Familie nicht vermisste, aber es war ihr peinlich. Unendlich peinlich. Welches Kind haute ab, weil sie ihren Vater verlor. Keines. Nur sie. Sie war zu dumm gewesen. Vielleicht war es nicht die richtige Entscheidung, aber ihr Kopf war nur noch Muß und arbeitete nicht mehr vollständig. Ihr Körper hatte schließlich anderes zu bewältigen. Den Wärmeverlust. Die Dehydration. Die fehlende Nahrung. Den Kopfschmerz. Und vor all Dingen, die einhergehenden Probleme. Schwindel. Übelkeit. Zitteranfälle. Und dazu kamen noch die ganzen psychischen Probleme, die in ihrem Kopf umherschwirrten. Nichts war mehr klar. Alles nur noch verschwommen, aber sie wusste alle wären enttäuscht von ihr. Also warum nicht einfach abhauen.
Du bist doch schon längst abgehauen.
Langsam setzte sie sich auf. Danach versuchte sie ein Bein nach den anderen aufzustellenden, sodass ihr Körper genügend Zeit hatte, das ganze Geschehen zu verstehen.
Nachdem sie also nach mehreren Schwindelanfällen und vielen schwarzen Punkten vor ihrem Auge endlich stand, lief sie los. In irgendeine Richtung, den von ihrem Punkt aus, war alles nur Wald. Links Wald. Rechts Wald. Vor ihr Wald und hinter ihr Wald. Und unter ihr nasser modriger Boden.

Sie wusste nicht wie lange sie schon lief, aber der Regen wurde weniger und die Sonne kam raus. Endlich hatte sie Hoffnung das ihre Kleidung trocknete und sie ihre Unterkühlung selbst behandeln konnte. Jetzt erst realisierte sie erst wie ihre Zähne aufeinander schlugen und sie ihre Hände nicht mehr spürte.
Sie musste eine Pause machen. Ihre Lungen brannten wieder extrem, obwohl sie doch nur langsam lief. Mitten auf einem Weg im Wald bleib sie stehen und stützte ihre Hände auf die Knie. Sie selber bemerkte was für ein klappriges Gerüst sie doch eigentlich war.
Ein Blick nach oben verriet ihr, dass die Sonne wieder ihren Lauf machte und in einigen Stunden wieder untergehen würde und sie immer noch kein Schlafplatz gefunden hatte.
„Hallo, alles in Ordnung bei ihnen?"
Eine unbekannte frauliche Stimme tauchte hinter ihr auf.
„Ja... ja.", stotterte sie leicht, „Ich-ich bin nur zu früh losgelaufen mit meinem Hund und habe die letzte Regenwelle abbekommen. Jetzt warte ich auf meinem Hund, der da im Wald stöbert."
Was für eine jämmerliche Ausrede.
Auch die Frau wirkte verwirrt, nahm jedoch die Aussage hin.
„Okay, einen schönen Tag noch."
„Danke, ihnen auch."
Sie lief los und fast zeitgleich überkam sie ihre Symptome. Alles kehrte mit einem Mal zurück. Schwindel. Kopfschmerzen. Kälte. Sogar Herzrasen fühlte sie. Als wenn ihr Herz aus ihrer Brust springen würde.
Sie rappelte sich zusammen und lief wieder in den Wald hinein. Wieder weg von dem Sichtfeld, wo in den nächsten Stunden wahrscheinlich weitere Personen kommen würden und sie nach ihrem Wohlsein befragen würden.
Was sollten sie auch anderes tun. Sie musste schlimm aussehen und wusste nicht einmal, ob sie sogar Blut in den Haaren hatte von ihrem nächtlichen Ohnmachtsanfall.
Unachtsam lief sie durch den Wald und stürzte über eine Wurzel, die aus dem Boden ragte. Mit voller Wucht knallte sie auf einen Baumstamm. Durch ihren Kopf zog sich ein stechender Schmerz, jedoch stand sie auf und wollte weiterlaufen. Da hatte sie bloß die Rechnung ohne die neu erworbene Verletzung gemacht. Mittlerweile machten sich die anderen Symptome nicht mehr so schwer. Ihr Körper wurde dadurch schwächer, aber irgendwie hatten ihre Schmerzen nachgelassen, aber jetzt empfand sie einen neuen Schmerz. Sie berührte ihre Stirn und guckte sich ihre Finger an. Voller Blut waren diese.
Na toll. Nicht das noch.
Auf einmal tropften Blutstropfen über ihre Augen. Verlor sie wirklich so viel Blut? Nur durch so eine winzige Wunde.
Geräusche hinter ihr ließ Adrenalin durch ihre Adern pumpen. Sie rannte los. Sprang über Stöcker und Steine. Doch nach wenigen Sekunden waren ihre Kräfte am Ende. Sie sackte wie ein Sack Kartoffel hin sich zusammen und lag auf dem Boden. All ihre Schmerzen und Probleme prasselten auf sie hinein. Wimmernd lag sie dort und sah wie ein Hund sich nährte. Dumpf hörte sie wie Leute näher kamen und nach jemanden riefen, doch sie war viel zu schwach, um irgendwas entziffern zu können.
Als sie hörte wie die Leute immer näher kamen, wollte sie sich ein letztes Mal aufrappeln, denn sie hatte die starke Befürchtung, dass sie nach ihr suchten. Doch beim Aufstützen ihrer Hand berührte eine warme Hand ihre Schulter und drückte sie wieder zurück auf den Boden. Auch wenn sie nur verschwommen sah, sah sie Leute in neongelber Kleidung. Im nächsten Moment wurden die Stimmen auch wieder klarer.
„Lucia? Kannst du mich hören?"
Eine vertraute Stimme. Schwach blickte sie ihm ins Gesicht.
„A-Alex?", fragte sie sachte und total leise.
„Shhh... alles gut, meine Kleine. Wir sind jetzt hier.", beruhigte er sie.
Erst jetzt bemerkte sie, dass sie weinte.
„Mom und Phil... sie-sie..."
„Sie sind hier. Sollen sie kommen?"
Langsam schüttelte sie den Kopf. Sie wollte ihnen nicht unter die Augen treten.
„Bleibst du... hier?"
Auch wenn ihr Plan vor einigen Stunden noch anders aussah, wusste sie, dass sie ohne Hilfe nicht mehr hier wegkam. Und dann hätte sie lieber Alex an ihrer Seite als ihre Mutter, Phil oder irgendeine fremde Personen.
„Ja, Lucia. Ich bleib hier."
Er streichelte ihr die Wange als sie wieder eintrübte.
„Flo? Ich brauch Monitoring und einen Zugang mit warmer Kochsalzlösung. Franco? Ich brauch Temperatur und BZ.", wies er an.
Lucia war maßlos überfordert mit der Situation als alle an sie rumfuchtelten. Hätte sie gekonnt, hätte sie sich gewährt, aber sie hatte Mühe und Not die Augen offen zu halten.
„Lucia? Hast du irgendwo Schmerzen?"
Automatisch ging ihr Hand zu ihrer Kopfplatzwunde.
„Noch irgendwo?"
„Der-der ganze Kopf. Mein-mein..."
Sie wollte sich aufrichten, aber ohne Erfolg, denn direkt drückte Alex sie wieder runter. Jedoch konnte sie vorher ihren Hinterkopf anfassen, woraufhin Alex sich diesen anguckte.
„Zwei Kopfplatzwunden. Müssen bestimmt genäht werden."
Er verband diese.
„Lucia, sonst noch irgendwas?"
Gezielt wollte er nicht ihren ganzen Körper absuchen, da sie mitarbeiten sollte, denn ihm ist nicht ihr somnolentes Verhalten entfallen. Dazu war sie voller Panik und Stress, was ihr erhöhter Puls zeigte.
„Mir ist ka-kalt.", flüsterte sie leise.
„35,4 °C", unterstützte Franco ihre Aussage.
„Stark unterkühlt. Gebt mir eine Decke."
Behutsam legte er die Decke über sie.
„Lucia?", fragte er besorgt als ihre Sauerstoffsättigung fiel und sie nichts mehr sagte.
„Schwindel und... und..."
Ihr Atem stockte. Nur noch wenig Luft nahm ihre Lunge auf.
„Sie hat sich bestimmt eine Lungenentzündung weggefangen. Ich brauch Sauerstoff."
Sofort reichten seine beiden Assistenten ihm die Sauerstoffbrille und er legte sie behutsam an.
Leise fing Lucia an zu weinen. War es nun das Ende? Sie konnte nicht mal aufzählen, was ihr alles fehlte und besonders gut fühlte sie sich auch nicht. Um ehrlich zu sein, hatte sie sowas noch nie gefühlt.
„Okay, sie ist ziemlich instabil. Holt mir die Trage her."
Nun bemerkte auch Alex, dass sie weinte.
„Hey, es wird alles gut, okay? Ich werde dafür sorgen, dass es dir besser geht."
Er konnte sich gar nicht vorstellen, was in ihrem Kopf vorging. Als sie verschwunden war, war allen klar, dass ihre Emotionen übernommen hatten. Auch wenn keiner ihr zugetraut hätte einfach abzuhauen. Die Stunden vergingen und man hatte sie ohne Erfolg gesucht. Bis eine Zivilistin anrief und die Polizei auf ein verwirrtes Mädchen aufmerksam machte.
„Ich-ich bin schrecklich. Ich-ich hätte nicht abhauen sollen. Es werden mich alle hassen."
Sie selber war verwundert, dass sie genau das sagte. Denn schließlich waren es bisher nur ihre Gedanken. Ihre Schuldgefühle.
„Hör mir zu. Keiner hasst dich. Wir haben dich alle schrecklich vermisst. Wir hatten so Angst um dich. Wirklich keiner hasst dich und macht dir Vorwürfe."
Das zu hören, machte es einerseits besser. Andererseits fing sie noch mehr an zu weinen, was ihren Puls in die Höhe trieb.
Alex bemerkte dies und schloss sie in die Arme.
Sie sollte nicht solche Schuldgefühle mit sich rumtragen und nicht denken, dass sie alle hassen.
„Shhh... Ich bin hier."
Der Notarzt, der vor ihr kniete, hatte sie in die Arme genommen und strich ihr über die Klamotten und wiegte sie vor und zurück.
„Wir sind alle da."
Nach einer Beruhigungsphase wurde sie auf die Trage verfrachtet und wurde durch den Wald getragen bis sie endlich auf dem Weg ankamen, der zu ihrem Überraschen kaum dreizig Meter entfernt war. Dort angekommen und auf die Liege gelegt und festgeschnallt, wurde sie direkt von Phil und ihrer Mom überrumpelt. Sie wollte sie jedoch nicht sehen. Es war ihr peinlich und wirklich in der Lage fühlte sie sich auch nicht. Gott sei Dank, fing Alex sie ab.
„Flo bring sie in den RTW.", wies er noch an.
Flo schob sie voran.
„Alex, warum lässt du uns nicht zu ihr?", fragte Kathrin aufgebracht.
Ihre Nacht war so schlimm. Sie flippte ständig aus und wollte im Gewitter nach ihr suchen. Hätten die Polizisten sie nicht überredet, wär sie die Nacht nicht Mal nach Hause gefahren. Auch Phil war besorgt, ließ es sich aber nicht anmerken. Er würfelte nur die ganze Zeit hin und her, was ihr passieren könnte.
„Kathrin, hör mir zu. Ihr geht es den Umständen entsprechend gut. Sie ist ansprechbar. Aber sie möchte euch gerade nicht sehen."
„Was hat sie?", fragte Phil sachlich.
Er nahm die Aussage hin, dass Lucia sie beide nicht sehen wollte. Sie war höchstwahrscheinlich überfordert und hatte schrecklich Schuldgefühle.
„Sie ist Dehydriert, unterkühlt, hat zwei Kopfplatzwunden, worüber sie eine Menge Blut verloren hat, hat sich bestimmt auch eine Lungenentzündung zugezogen und ist leicht somnolent. Ihr Puls ist stark und ihre Sättigung und ihr Druck leicht niedrig. Aber nichts was wir nicht regeln könnten.", klärte Alex die beiden auf.
„Oh mein Gott.", sagte Kathrin entsetzt über die vielen Diagnosen.
„Sie ist jetzt sicher, Kathrin. In ein, zwei Wochen ist sie wieder fit.", verstärkend strich er ihr über die Schulter.
„Danke, Alex.", sagte Phil erleichtert.
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The end.
Ich habe tatsächlich Ideen wie es weitergehen könnte, weil das Ende ja ziemlich offen ist. Interessiert?

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