35. „Dich trifft keine Schuld."

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Mädchen mit Fieber nach Impfung.
Phil stöhnte auf. Das war doch bestimmt wieder ein Bagatelleinsatz. Sie hätten bestimmt auch selber in die Notaufnahme fahren können oder weniger als zwölf Stunden warten können und dann zum Hausarzt zu gehen. Aber nein, sie mussten gegen zweiundzwanzig Uhr noch den Rettungsdienst rufen.
Schwer stand er von der Couch auf und traf auf Franco in der Autohalle. Er war heute Nacht sein NEF-Fahrer.
„Bagatelleinsatz?", fragte er.
„Denke mal schon. Klingt jeden Fall so."
Auch Jacky und Florian kamen grad in die Garage.
„Wirklich? Ich musste wegen Fieber aus dem Bett?", fragte Florian maulig.
„Mecker' nicht so.", sagte Jacky verschlafend.
Sie stiegen ein.
Phil dachte nach. Was hatte die Eltern dazu gebracht den Rettungsdienst anzurufen für ein bisschen Fieber und das nach einer Impfung. Es war meist völlig normal, dass man nach einer Impfung Fieber bekam, schließlich wurde der Körper angegriffen.
Und diese Bagatelleinsätze nahmen einen dann die Zeit, um zu wirklich lebensbedrohlichen Situationen zu fahren. Jedoch verstand es niemand. Wie oft waren sie schon bei einer Person, die seit Jahren Schmerzen hatte und auf einmal ins Krankenhaus musste und das um drei Uhr nachts.

So kamen sie fünfzehn Minuten später in der Straße an und klingelten. Es war ein Einfamilienhaus am Stadtrand.
„Guten Abend, danke das sie hier sind.", öffnete eine aufgelöste Mutter die Tür.
„Guten Abend, um wen geht es denn? Was ist passiert?", fragte Phil.
„Meine Tochter. Sie wurde heut' morgen geimpft und jetzt hat sie starkes Fieber. Gerade eben wollte sie aufstehen, da ist sie kurz ohnmächtig geworden. Ich weiß mir nicht mehr zu helfen. Ich würde sie echt nicht holen, wenn ich wüsste was los ist.", sagte sie nervös und führte die Rettungskräfte ins Zimmer des Mädchen.
Schnell wurde klar: Es war kein Bagatelleinsatz.
„Wie heißt ihre Tochter?", fragte Phil und setzte sich auf die Kante des Bettes.
Sofort maß er den Puls an ihrem Handgelenk.
„Emily."
Dann zog Franco sie zur Seite und fragte sie weiter aus. Vorerkrankungen? Allergien? Hat sie schon Mal so auf eine Impfung reagiert?
„Emily, hier ist der Rettungsdienst, kannst du mich hören?", fragte Phil sachte.
Ein Wimmern entfuhr ihr. Ihre roten Bäckchen zeigten bereits ihren Fieber.
„Ich brauch Monitoring. Druck. Sättigung. Und Temperatur. Sie ist ziemlich tachykard und ihr Herz schlägt leicht arrhythmisch."
Dazu röchelte sie leicht vor sich hin. Das war alles andere als ein Bagatelleinsatz. Hätte er aber gewusst wie weit dieses Mädchen an der Klippe zum Tod war, hätte er erst gar nicht so reagiert.
„Emily? Kannst du mich hören?"
Ein leichtes Nicken.
„Kannst du dann kurz die Augen auf machen?"
Ihre Augen flackerten und schlussendlich öffnete sie die Augen. Ihre Augen war fahl. Kein Glänzen. Nur pure Erschöpfung.
„Hast du Schmerzen?"
„Mein Kopf. Und mir ist schwindelig.", sagte sie leise.
„Phil, Temperatur 40,4. Druck 180 zu 90. Puls 130. Sättigung 94."
„Keine guten Werte."
Er blickte auf den Monitor und betrachtete die EKG-Linie. Eindeutige Herzrhythmusstörungen.
„Okay. Ich will ein Zugang und dann sofort ins Krankenhaus. Könnte eine Sepsis sein.", überlegte er.
Franco kam näher.
„Doc? Sie hat keine Erkrankungen, keine Medikamente, keine Allergien. Sie hat auch noch nie so eine Reaktion von einer Impfung."
„Wann war die Impfung?"
„Heute morgen. Gegen 10. Tetanus."
„Mhhh.", überlegte er.
So eine Reaktion nach einer Tetanusimpfung war eher selten.
„Also wir werden sie sofort in den RTW bringen. Einer holt bitte die Trage. Sie sollte nicht laufen."
„Also Frau?"
„Frau Wilke."
„Frau Wilke, wir werden ihrer Tochter mit ins Krankenhaus nehmen. Vorher würde ich ihr gern etwas gegen ihr Fieber und den hohen Blutdruck geben. Wäre das in Ordnung für Sie?"
Sie nickte. Man merkte ihr an wie überfordert sie war. Sie spielte mit ihren Händen und trat von einem Bein aufs andere.
„Hey Emily, wir würden dich jetzt mit ins Krankenhaus nehmen, okay?"
Sie reagierte gar nicht mehr. Sie war sehr somnolent und haderte damit bei Bewusstsein zu bleiben.
Schnell spritzte er die Medikamente und machte sie bereit zum Abfahren. Sie landete auf der Trage. Sie schwankte zwischen Ohnmacht und Bewusstsein. Ihre Mutter vollkommen aufgelöst und Phil und seine Kollegen hochstrukturiert.
Gerade fuhren sie durch den Flur als das EKG-Gerät Alarm schlug.
„Phil, Asystolie."
„Scheiße. Trage runter. Reanimation starten."
Schnell und dennoch strukturiert stellten sie die Trage runter. Florian fing an den Brustkorb runterzudrücken und Jacky beatmete das Mädchen. Phil hingegen startete den Defibrillator. Er klebte die Elektroden an die richtige Stelle.
Franco stand hinter der Trage im Flur und versuchte die Mutter zu beruhigen. Sie weinte unaufhörlich und schrie den Namen ihrer Tochter.
„Emily!", schrie sie, „Was hat sie denn?"
Trotzdem eine schreiende Mutter hinter den Rettungskräften standen, arbeiteten sie routiniert. Sie waren mit solchen Situation vertraut und wussten damit umzugehen. Das einzig wichtige war der Patient.
„Hände weg vom Patient."
Alle ließen den Patient los und Phil schockte die Patientin.
Sie zuckte. Weiterhin eine Nulllinie. Florian drückte weiter. Jacky beatmete das Mädchen.
Sie schockten ein zweites Mal.
Ein drittes Mal.
Ein viertes Mal.
Ein fünftes Mal.
Sie konnte nicht sterben. Sie war doch erst Sechszehn.
Ein weiteres Mal wurde sie geschockt.
Immer noch eine Nulllinie.
Keine selbstständige Atmung.
Phil wollte ein weiteres Mal schocken.
„Phil. Sie ist tot.", sagte Florian und zog die Paddels aus der Hand.
„Nein! Sie müssen sie retten!", rief die Mutter unter Tränen.
Sie war tot. Phil konnte daran auch nichts mehr ändern. Er als Notarzt.
„Es tut mir leid Frau Wilke. Ihre Tochter ist gestorben. Mein Beileid.", sagte Phil wie in Trance.
„Nein!", rief sie und stürmte zu ihrer Tochter.
Sie umklammerte die Hand ihrer Tochter und legte ihren Kopf auf ihren Oberkörper.
Phil hingegen ging raus an die Frische Luft. Er musste hier weg. Sofort.
Er hatte es versaut. Er hatte ein sechszehnjähriges Sterben lassen. Wo er am Anfang noch dachte es sei ein Bagatelleinsatz. Ein einfacherer Einsatz, wo die Eltern überreagiert hatten. Sie waren zu spät. Hatten es versaut. Was wäre wenn er es direkt ernst genommen hätte? Hätten sie schneller fahren können? Hätten sie schneller handeln können? Wäre sie dann vielleicht nicht gestorben? Wahrscheinlich. Er hatte es nicht ernst genommen. Keiner aus seinem Team hatte es zuerst ernst genommen und jetzt war sie tot. Mit sechszehn Jahren tot. Wie konnte das passieren?
Die Schreie der Mutter und das ganze Weinen, machte die Situation fast unerträglich. Die Schuldgefühle zerrissen ihn. Er hätte sie retten können, hätte er es doch nur ernst genommen.
„Phil, du hast keine Schuld. Das weißt du.", sagte Franco, einer seiner besten Freunde, und klopfte ihn auf die Schulter.
„Wir hätten schneller sein können."
„Nein hätten wir nicht. Ihr Schicksal war schon unterschrieben."
Er seufzte.
„Dich trifft keine Schuld."
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Dieser Short mal mit einer Message dahinter. Bitte denkt immer drüber nach, ob ein Rettungswagen nötig ist oder ob man auch vielleicht ein Tag noch warten kann oder selbst ins Krankenhaus fahren kann. Oder ob ihr nicht vorher die Nummer 116 117 anrufen könnt. Die hilft immer und reicht manchmal auch aus, sodass der Rettungsdienst zu wirklichen lebensbedrohlichen Notfällen kommen kann.

Hey. Also eigentlich wollte ich heute einen komplett anderen Short hochladen, der etwas fröhlicher und schöner wäre. Aber wir mussten vor zwei Stunden den Familienhund einschläfern lassen, weshalb mir nicht nach einem »schönen« Short ist. Heute habe ich mal wieder erlebt wie schnell ein Tag von gut zu schlecht wechseln kann und wie unfair das Leben ist. Ich stand dem Hund tatsächlich nicht so nah und er hatte ein wundervolles Leben. Sie ist 13 Jahre alt geworden, was für seine Rasse mega alt ist, aber dennoch war es traurig. Ich habe drei Stunden damit verbracht meine aufgelöste Cousine, 8, zu beruhigen, weil ihre Eltern nicht die Empathie zeigen konnten. (Vor allem nicht der Vater) Dazu war heute der Todestag ihres richtigen Herrchens, was die Sache noch viel bedrückender gemacht hat. Also nehmt es mir bitte nicht böse, dass ich weder den Short überlesen habe noch einen schönen ausgewählt habe.
Rest In Peace Mara. (28.04.2021)
Ich hoffe es ist nicht schlimm, dass ich mein Herz hier ausgeschüttet habe.

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