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»Kaum zu glauben, dass sie Wochen damit verbracht hat, diese Gala zu planen und dann am großen Tag nicht abschalten kann.« Ein Schmunzeln verzieht die rosa Lippen meines Bruders. Mit einer Hand in der Hosentasche stellt er sich neben mich, um das rege Treiben beobachten zu können.

»Du musst nicht meinen Aufpasser spielen, Liam. Ich werde mich benehmen.« Ich richte den Ausschnitt meines Kleides und lasse meinen Blick auf der Suche nach einem Kellner schweifen, der mir hoffentlich etwas Alkoholisches zu trinken bringen kann. Nur ein Gespräch mit meiner Mutter und ich bin am Verdursten.

»Sei nicht albern, Cassidy. Sie meint es doch nur gut. Außerdem haben wir uns eine halbe Ewigkeit nicht mehr gesprochen. Wie geht das Studium voran?« Begeisterung flammt in seinen blauen Augen auf. Sie sind heller als die von Aspen, gehen fast ins gräuliche.

Ich schnaube und lasse den Kopf in den Nacken fallen, als stünden an der kunstvoll verzierten Decke die Antworten auf meine Gebete und seine lästigen Fragen. Aus dem Augenwinkel nehme ich wahr, dass seine Augenbrauen aufeinander zuwandern und er die starken Arme vor der Brust verschränkt.

Tatsächlich sind einige Wochen seit unserem letzten Treffen vergangen, weswegen meine Laune bei seiner Frage noch weiter in den Keller wandert. Haben sich in dieser Zeit keine anderen Fragen angesammelt als die zu meinem Studium?

»Es läuft großartig, aber die Klausurenphase ist doch etwas stressig«, sage ich überspitzt. Meine Stimme wandert unnatürlich in die Höhe und präsentiert meine Lügen wie auf einem Silbertablett. Nicht einmal der Funke Wahrheit, der in meiner Antwort mitschwingt, sorgt für einen ruhigeren Puls.

Liam nickt verstehend und streicht sich mit der Hand durch die Haare. Heute hat er sie nach hinten gegelt und sie bewegen sich kein Stück, als die Finger an den einzelnen Strähnen vorbeigeschoben werden. Vermutlich könnte man in ihnen eine Garnele durch ein selbstgebautes Löffel-Katapult platzieren, ohne, dass er es merken würde.

Seine Wangen und Kinn sind rasiert, er hat seinen feinsten schwarzen Anzug und das strahlendste Hemd herausgesucht und beides mit einer neuen Krawatte kombiniert – sofern ich das beurteilen kann. Nur die kindlichen Sommersprossen auf der Nasenspitze und den Wangen deuten auf den Jungen hin, den er tief im Herzen noch für mich darstellt.

»Die Klausurenphasen waren in der Tat sehr hart. Aber glaub' mir, wenn ich dir sage, dass es sich lohnen wird. Du darfst nur das große Ganze nicht aus den Augen verlieren und musst stets auf die Examen hinarbeiten. Dann wird aus dir bestimmt eine sehr erfolgreiche Anwältin.« Er legt seine Hand auf meine Schulter und drückt diese leicht.

»Ich kann es kaum erwarten«, nuschle ich und bin froh über die Ablenkung in Form einer Kellnerin, die sich mit einem Tablett voller Champagnergläser zwischen uns schiebt. Sie reicht jedem von uns ein Glas und ich beeile mich, meines entgegenzunehmen. Kaum hat sie sich auf den Weg zu der nächsten Gruppe gemacht, setze ich die roten Lippen an dem schillernden Glas an.

»Wie kommst du mit Professor Rhodes zurecht? Ist er immer noch so ein harter Hund wie zu meiner Zeit?« Er lächelt sein typisches Liam-Lächeln, jenes, bei dem kleine Grübchen in seine Wangen treten und den Zug um seinen Mund weicher werden lässt.

»Müsst ihr auch eine Präsentation halten? Und wie sieht es mit den beiden Hausarbeiten aus, die du in den ersten Semestern schreiben musst?« Ich habe das Gefühl, dass sich alles zu drehen beginnt. Leider kann dies kaum an dem kleinen Tropfen Alkohol liegen, den ich zügig in meine Kehle geschüttet habe.
Seine Worte vermischen sich zu einem einzigen Brei aus leisen Vorwürfen und ehrlichem Interesse am Studiengang, das nichts mit meiner Person zu tun hat.

Mein Hals beginnt, vor Trockenheit zu brennen und ich setze die Lippen erneut am Rand an. Der fruchtige Champagner prickelt auf meiner Zunge und ich bedauere den Umstand, ihn nicht genießen zu können.

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