Ich bearbeite meine Unterlippe mit den Zähnen und schmecke bereits den metallischen Geschmack auf der Zunge. Schwermütig stemme ich die Ellbogen auf die glatte Tischplatte meines Schreibtischs und vergrabe das Kinn in der kleinen Kuhle.
Einzelne Haarsträhnen schieben sich vor meine Augen, wie ein Vorhang, der verhindern möchte, dass ich mich weitere Stunden mit meinem Studium beschäftige. Sporadisch puste ich die Strähnen nach oben, die mit kurzer Verzögerung wieder vor meine Augen fallen, und gebe es schließlich auf.
Den Text auf dem Bildschirm kann ich auch auf Umwegen noch gut genug erkennen, um das flaue Gefühl in meinem Magen steigen zu lassen.
Meine Augen bewegen sich langsam über die Oberfläche des Schirmes, während ich die Lippen vorschiebe und den Glasstrohhalm aus meinem Glas umklammere.
Seit einer geschlagenen Woche beschäftige ich mich neben der Uni mit Praktikumsplätzen. Allmählich drängt die Zeit mich dazu, mich endlich zu entscheiden und die Bewerbungen abzuschicken, wenn sich mein Studium nicht um ein weiteres Semester verlängern soll.
Durch die Gala vor einer Woche sind die ein oder anderen Kontakte hinzugekommen, denen ich meine Unterlagen aufdrücken und sie bitten werde, sich meiner für geschlagene vier Wochen anzunehmen. Trotz des Drucks, der von meinen Eltern sowie Tutoren auf mich übertragen wird, kann ich mich nicht dazu durchringen, die Bewerbungen abzuschicken. Es ist nicht so, dass noch etwas fehlen würde –zumindest meiner Auffassung nach sind die Unterlagen vollzählig und fehlerfrei. Es geht einfach ums Prinzip und die Endgültigkeit, die das Absenden mit sich bringt. Dann liegt es nicht mehr in meiner Hand wie sich die kommenden Monate für mich gestalten, sondern in der fremder Menschen.
Ich leere mein Glas und stelle es beiseite.
Drei Anwaltskanzleien habe ich mir ausgesucht. Zwei von denen sind solche, die meine Mutter vorgeschlagen hat. Dass ich mich für die dritte melde, ist Zufall. Vor einem Monat hat eine dort arbeitende Anwältin eine Art Vortrag in einem meiner Seminare gehalten.
Sie stammt aus keiner der Top-Kanzleien, allerdings hat ihr freundliches Auftreten und die Tatsache, dass ihre Kanzlei Pro-Bono-Fälle übernimmt, mich dazu gebracht, mir ihre Kontaktdaten mit Textmarker versehen in mein Notizbuch zu schreiben. Diese Kanzlei soll meine Art Notlösung sein, wenn es mit den anderen nicht funktioniert. Ich kann nur hoffen, dass meine Anmeldung im Zweifelsfall die der anderen aussticht.
Ich atme ein letztes Mal tief durch und schicke eine Bewerbung nach der andere ab. Ein seltsames Gefühl der Leere befällt mich, als ich den Browser schließe und das Bild betrachte, das meinen Bildschirm schmückt.
Das Bild zeigt Delilah, Spencer, Aspen und mich im letzten Sommerurlaub. Gemeinsam waren wir für eine Woche in Schottland unterwegs und haben uns rücksichtslos wie Touristen verhalten. In diesem Moment stehen wir auf einer freien Wiese, halten uns gegenseitig in den Armen und strahlen wie Kinder in die Kamera. Das Bild wurde an unserem letzten Tag von einer hilfsbereiten Mutter mit vier Kindern aufgenommen, die mit Herz und Seele versucht hat, einen Moment für uns zu schaffen, der unvergesslich ist. Hinter uns in weiter Ferne färbt sich der Himmel in warmen Rot- und Orangetönen, die über die kalten Temperaturen hinwegtäuschen, die uns damals überrascht hatten.
»Cassidy? Kann ich reinkommen?« Ich löse den Blick von meinem Laptop und sehe zur Tür. Delilah wartet geduldig auf meine Antwort, aber sie hat den Türgriff bereits nach unten gedrückt. Ich schmunzle und klappe den Laptop zu, bevor ich weiter an den Urlaub oder die Bewerbungen denken kann.
»Ja, komm rein«, rufe ich und strecke Beine und Arme von mir, die vor losgelassener Anspannung zu zittern beginnen.
Lil drückt die Tür auf und tritt in mein Zimmer. Ihr Blick gleitet über mich hinweg zu meinem Laptop, zu dem ich unterbewusst Distanz aufgebaut habe. Der Schatten auf ihrem Gesicht, der ihre Augen getrübt hat, verschwindet langsam und macht Platz für ein Lächeln, das vorsichtig an ihren Mundwinkeln zupft.
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All this Time | ✓
RomanceZahlen bestimmen unser Leben, aber für Cassie ist nur eine wichtig. Die Eins, die sich widerspiegelt in der Person, die das Leben auf die schönste und romantischste Weise auf den Kopf stellt. Seit Jahren wartet sie darauf, dass ihre große Liebe unau...