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Meine Unterlippe bebt und meine Schultern sacken nach vorne. Dass er mich des Hauses verbannt und mich nicht mehr sehen möchte, damit hätte ich nicht gerechnet.

Unter all den Emotionen, die über meinem Körper brechen wie eine Welle, spüre ich die zaghafte Berührung meiner Mutter auf meiner Haut. Sie legt ihre Hand auf meinen Arm und streicht vorsichtig mit dem Daumen über ihn. Ihre Lippen sind gestürzt, die Augen glasig und sie sieht voller Schuld zu mir auf.

»Ich habe nicht gewusst, dass du so leidest, Ana. Bei unserem letzten Essen... Ich dachte, du seist nur schlecht gelaunt und gestresst von den Klausuren. Ich hatte keine Ahnung.« Eine einzelne Träne rinnt über die Wange meiner Mutter und mein Herz setzt einen Schlag aus. Es ist schon lange her, dass ich sie zuletzt habe weinen sehen. Ich wusste nicht mehr, dass sie dazu tatsächlich in der Lage ist. Sie ist eine starke Frau, die ihre Gefühle normalerweise unter Kontrolle hat.

Sie lehnt ihre Stirn an meiner Schulter an. Leichtes Beben überkommt ihren Körper und ich sehe sie an, als würde ich ihr das erste Mal begegnen.

Sie erscheint mir wie eine völlig fremde Frau. Ich bin noch damit beschäftigt, die Reaktion meines Vaters zu verarbeiten, weswegen ich absolut nicht weiß, wie ich mit ihr umgehen soll. Noch nie hat sie sich mir so verletzlich gezeigt. Noch nie hat sie mir gegenüber eine Schwäche eingestanden. Und auch, wenn es mich aufwühlt, sie so zu sehen, gibt es mir ein Stück weit Genugtuung. Endlich scheint sie wachzuwerden, zu verstehen.

Ich fange an, unbeholfen ihren Arm zu tätscheln, was das Schluchzen nur lauter werden lässt. Erschrocken ziehe ich mich wieder zurück und baue Abstand auf, der mir hoffentlich dabei hilft, die Situation besser einschätzen zu können.

»Dass du so empfindest, Ana, tut mir unglaublich leid. Niemals hätte ich gedacht, dass du denken könntest, wir würden dich nicht lieben und Liam bevorzugen«, schnieft sie. Sie wischt sich mit dem Handrücken über die rosa Wangen und sieht sich dann auf der Suche nach einem Taschentuch um. Auf dem Tischchen neben den Sesseln wird sie schließlich fündig.

»Ihr habt es mir nie gesagt, Mom. Seit so vielen Jahren. Ich sollte immer zu Liam aufsehen, während ihr mich und meine Gefühle außer Acht gelassen habt. Er hat all eure Liebe erfahren, selbst in Momenten, in denen er nichts getan hat.« Meine Stimme ist brüchig und ich schlinge die Arme um meinen bebenden Körper.

Mom ist damit beschäftigt, die Tränen von ihren Wangen zu tupfen, ohne dabei ihr Make up zu ruinieren. Ihre rot bemalten Lippen zittern, dennoch hebt ein schwaches Lächeln ihre Mundwinkel, als sie den Kopf hebt und mich ansieht.

»Natürlich lieben wir dich, Ana. Wir beide, dein Vater und ich, sind so dankbar dafür, dass du unsere Tochter bist. Unsere starke, selbstbewusste, wunderschöne Tochter.« Mein Herz rebelliert in meiner Brust und ein Teil von mir will sie bitten, diese Worte zu wiederholen. Und dann nochmal. Ich spüre, wie die Schlinge um mein Herz an Halt verliert und wie meine Augen zu brennen beginnen.

»Wirklich?«, hakte ich atemlos nach. Ich muss es noch einmal von ihr hören, eine Bestätigung bekommen. Mittlerweile habe ich die Hoffnung, dass sie mir sagen könnten, dass sie mich lieben, aufgegeben.

»Natürlich, Schatz. Du bist doch unser kleines Mädchen, unsere Prinzessin und wir sind stolz auf die junge Frau, die du geworden bist.« Sie überbrückt den Abstand zwischen uns in einigen Schritten und legt ihre Hände auf meine Arme. Ein weicher Zug hat sich auf ihre Gesichtszüge gelegt und ihre Augen funkeln noch immer verräterisch, als sie mich betrachtet. Trotzdem kann ich erkennen, dass ihre Worte ernst gemeint sind.

»Warum kann Dad meine Entscheidungen dann nicht akzeptieren? Warum ist er gegangen und sagt, dass ich mich nicht mehr melden soll?«, flüstere ich mit bebender Stimme. Mom legt den Kopf schräg und seufzt leise.

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