Ein frischer Windhauch streichelt meine Wangen, als ich den Kopf hebe und meinen Textmarker beiseitelege. Ich lasse den Blick schweifen und mustere die Umgebung, in der Hoffnung, es hätte sich in den vergangenen Minuten etwas verändert.
Der Herbst nimmt London vollkommen in Beschlag. Die Temperaturen sinken gefährlich und die Blätter an den Bäumen erinnern an traumhafte Sonnenuntergänge. Sie hauchen dem Park der Universität Leben ein und verleihen ihm ein gewisses Flair, das beinahe die Kälte wieder wettmacht, die langsam meine Glieder hinaufkriecht.
Ich schlage die Beine übereinander und greife mit den Händen, die von dem dünnen Stoff alter Handschuhe überzogen sind, nach meiner Thermoskanne. Die Qualität des Kaffees, den sie in unserer Bereichsmensa anbieten, lässt zu wünschen übrig. Doch für mich zählt gerade nur, dass er mein Inneres wärmen und mich wachhalten kann.
Das Gelände des King's Colleges ist weitläufig und es gibt tausende Plätze, die sich ebenso gut zum Lernen eignen Bank- und Tischkombination, auf der ich mich vor geraumer Zeit eingefunden habe. Die Temperaturen werden vermutlich dafür sorgen, dass ich mir eine Erkältung einfange, dennoch ist diese besser als die Aussicht darauf, in der Bibliothek zu sitzen, die stickige Luft zu ertragen und Studenten dabei zuzusehen, wie sie sich gelangweilt, aber mit einem gewissen Ehrgeiz, über die Unterlagen beugen.Die Buchstaben verschwimmen zu einer einzigen Masse und der Sinn geht mir schon verloren, da habe ich den Satz noch nicht beendet. Es wäre wahrscheinlicher, dass ich mich nach einer Pause noch einmal motivieren und tatsächlich produktiv sein könnte. Aber ich habe Angst, beim Betreten des Hauses oder meiner Wohnung meinen Freunden in die Arme zu laufen.
Es klingt absurd und ich möchte mich innerlich dafür schlagen, dass ich so empfinde. Aber ich schaffe es kaum, einem von ihnen in die Augen zu sehen. Nach Delilah hat auch Spencer erfahren, wie es um Aspen und mich steht. Die Stille zwischen uns ist kaum zu ignorieren, doch ihre Versuche, mich zum Reden zu bringen, haben keine Wurzeln geschlagen. Dafür bin ich zu sehr mit mir selbst und meinem Leben beschäftigt.
Allerdings habe ich das Gefühl, Klarheit gewonnen zu haben. Nicht genügend, um mein Studium ohne Plan abzubrechen und vor dem wortwörtlichen Nichts zu stehen, aber dennoch ein bisschen.
Nach dem Gespräch mit meinen Eltern habe ich viel nachgedacht, stundenlang schweigend in meinem Bett gelegen und bis tief in die Nacht darüber philosophiert, wie es jetzt weitergeht.
Pinterest war mir dabei eine große Hilfe, wenngleich ich weiß, dass von dieser Plattform wohl keine ernstzunehmende, therapeutische Glanzleistung ausgeht. Dennoch habe ich viele Sprüche gefunden, die mich wieder motiviert und mir gezeigt haben, dass ich aus diesem Punkt meines Lebens ausbrechen kann.
Ich allein habe in der Hand, wie der nächste Abschnitt meines Lebens verlaufen wird. Nur ich beeinflusse, wie ich mich fühle und welche Bereiche in meinem Leben es wert sind, dass ich ihnen Aufmerksamkeit und Passion schenke.
Dabei ist mir aufgefallen, wie sehr mich mein innigster Wunsch, von meinen Eltern geliebt und respektiert zu werden, beeinflusst hat. In so vielen Situationen, die mir damals nicht aufgefallen sind, mich aber dazu gebracht haben, zuhause zu bleiben, mich zurückzuziehen oder von meinen Prinzipien abzuweichen, weil ich wusste, dass sie es von mir Verlagen würden.
Unzählige Gläser Rotwein habe ich getrunken, obwohl ich mir kaum ein schlimmeres Getränk vorstellen kann. Dennoch habe ich ihn mir den Rachen hinuntergekippt, mit einem Lächeln auf den Lippen und durchgestrecktem Rücken, weil ich ihnen hatte zeigen wollen, wie erwachsen ich bin. Ich habe meinen Geschmack für sie verändert, weil ich geglaubt habe, es würde sie beeindrucken und überzeugen, dass ich es wert bin.
Wert bin, geliebt zu werden.
Jetzt weiß ich, dass ich dabei mich selbst verloren habe. Das Gespräch mit Mom und Dad über die Praktika und meine Noten hat mir gezeigt, dass die Gedanken, die mich nachts nicht schlafen lassen, sie keineswegs interessieren. Ich könnte ihnen hundert Gründe aufzählen, mich zu lieben. Sie würden den einen schlechten finden und sich auf diesen konzentrieren, ohne mir die Anerkennung zu geben, nach der ich mich sehne – und die ich verdient habe.
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All this Time | ✓
RomanceZahlen bestimmen unser Leben, aber für Cassie ist nur eine wichtig. Die Eins, die sich widerspiegelt in der Person, die das Leben auf die schönste und romantischste Weise auf den Kopf stellt. Seit Jahren wartet sie darauf, dass ihre große Liebe unau...