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Als ich an diesem Tag durch die langen Fluren schleiche, bekommt mich ein Gefühl der Erleichterung, das die Angst in meinem Inneren zügelt.

In den letzten Tagen habe ich mich intensiv mit meiner Zukunft auseinandergesetzt und endlich eine Entscheidung gefasst, die mich nicht mit Angst erfüllt. Sie gibt mir die Möglichkeit, mein Leben endlich selbst in die Hand zu nehmen und etwas mit meiner Zeit anzufangen, von dem ich weiß, dass es die Sache wert ist.

Ich bin stolz auf mich, ohne äußere Einflüsse und das Einwirken meiner Eltern diesen Weg ausgesucht zu haben und freue mich auf das, was kommt. Allerdings stehe ich noch vor der Aufgabe, ihnen genau diesen Entschluss mitzuteilen.

Und aller Euphorie zum Trotz, weiß ich, dass das nicht einfach werden wird.

Ich finde meine Eltern im Kaminzimmer vor.

Mein Vater steht neben dem Kamin, seine Hände umfassen ein dickes Glas und er sieht den Flammen dabei zu, wie sie sich ihrem Spiel hingeben. Meine Mutter hat sich mit einer Zeitschrift auf einem Sessel niedergelassen, der direkt vor der großen Fensterfront platziert ist. Von diesem hat man einen fantastischen Blick auf den großen Garten, der im Herbst jedoch wenig einladend wirkt. Bäume gibt es dort kaum, nur kleine Sträucher und Büsche, die sich allmählich braun färben.

»Hallo.« Ich halte im geschwungenen Türbogen inne und verschränke die Hände locker vor meinem Bauch. Die beiden sehen zu mir auf und während mein Vater die Augenbrauen hebt, schleicht sich ein Lächeln auf die Lippen meiner Mutter.

»Analia. Wie schön, dass du uns besuchen kommst. Hattest du dich angekündigt?« Mom legt ihre Zeitschrift beiseite und steht auf. In einer beiläufigen Handbewegung streicht sie die beige Hose glatt, ehe sie sich auf den Weg macht, mich halbherzig an sich zu drücken.

Der Duft von Rosen umspielt meine Sinne und ich schließe die Augen, als er mich an die Harmonie und Zuneigung erinnert, nach der ich mich so sehne – und die ich in wenigen Minuten vermutlich komplett zerstören werde.

»Nein, das habe ich nicht. Aber ich muss dringend mich euch sprechen.« Ich drücke meine Mutter leicht an mich, bevor sie mich mit sich zieht. Zögerlich lasse ich mich neben ihr auf einem Sessel nieder. Nervös nestle ich mit den Fingern an der Spitze meiner Bluse herum und schlage die Fußknöchel übereinander, nur um mich kurz danach wieder dagegen zu entscheiden. Ich stelle beide Füße sicher auf den Boden, lehne mich nach vorne und betrachte meinen Vater.

»Geht es um das Praktikum? Hast du doch noch einen Platz bekommen? Ich habe...« Ich schneide meinem Vater das Wort ab, indem ich entschieden mit dem Kopf schüttle.

»Es geht... indirekt um das Praktikum. Ich brauche nämlich keines mehr. Gestern habe ich das Studium abgebrochen.« Dad fällt die Kinnlade nach unten und Mom stößt einen erschrockenen Laut aus, der mich zusammenzucken lässt. Es klingt, als würde sie fürchterliche Schmerzen erleiden. Sie presst sich die Hand auf die Brust und beugt sich zu mir vor.

»Analia, sag uns, dass das ein Scherz ist.« Ein drohender Unterton schwingt in der Stimme meiner Mutter mit und vielleicht hätte ich an dieser Stelle schon nachgegeben, wenn es sich wirklich um einen Witz gehandelt hätte. Aber das hier ist die Realität. Gestern, gleich nach der letzten Prüfung, die ich wohl vollkommen in den Sand gesetzt habe, habe ich mich im Studienbüro abgemeldet – noch nie zuvor hat sich etwas so richtig angefühlt.

»Ich mache keine Scherze, Mom. Ab dem nächsten Semester werde ich kein Jura mehr studieren. Ich werde nicht in Liams Fußstapfen treten.« Ich bin überrascht, wie selbstsicher meine Stimme klingt. In der letzten Nacht habe ich fieberhaft überlegt, wie ich ihnen die Nachricht überbringen soll. Dabei habe ich stundenlang verschiedene Formulierungen ausprobiert und versucht, diese fehlerfrei einzustudieren. Jetzt fällt es mir plötzlich leicht, den beiden zu erklären, was Sache ist.

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