N A C H B E B E N (II)

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E V E L Y N

Endlich Zuhause. Mit einem tiefen Seufzer schloss ich die Wohnungstür, zog meine Schuhe aus und stellte meine Tasche auf den Fußboden. Ich war froh, dass dieser Tag vorbei war und merkte, wie die Anspannung Stück für Stück von meinen Schultern fiel. Die restlichen Stunden des Nachmittags wollte ich die Arbeit ruhen lassen und es mir stattdessen auf der Couch gemütlich machen. Ich konnte sowieso keinen klaren Gedanken fassen und mich schon gar nicht erst konzentrieren. Was sollte es bringen, in diesem Zustand Tests zu korrigieren oder die nächsten Unterrichtseinheiten vorzubereiten? Richtig, rein gar nichts. Es wäre pure Zeitverschwendung gewesen. Nachdem ich mich in meine Freizeitklamotten geworfen hatte – eine schwarze Leggings und ein Oversize-Shirt –, schaltete ich die Kaffeemaschine an und machte mir einen doppelten Espresso. Ich brauchte Koffein, mein Geist war völlig umnebelt und die Müdigkeit machte mich allmählich etwas schläfrig. Für einen Powernap reichte die Zeit nicht mehr aus, in zehn Minuten würden meine Freundinnen bei mir auf der Matte stehen. Zumindest Jo, Jess musste vorher noch etwas erledigen und würde sich entsprechend ein wenig verspäten. Das war aber nicht weiter schlimm, ich hatte ohnehin noch etwas mit Joanna zu besprechen.

Genüsslich nippte ich an meiner Espressotasse, schloss die Augen und ließ die vergangenen Stunden Revue passieren. Dieser Schultag stellte alles in den Schatten, was ich bisher in meiner Laufbahn als Lehrerin erlebt hatte. Zwischenzeitlich glaubte ich, in einem verrückten Karussell festzusitzen, so heftig schwankten meine Emotionen. Unwillkürlich dachte ich an Peyton. Verwunderlich war das eigentlich nicht, denn für mich war sie die Ursache für diese Achterbahnfahrt. Sie allein war schuld an dem Chaos, in dem ich mich nun befand. Der Beschützerinstinkt, der in ihr schlummerte. Die stechend blauen Augen, von denen ich immer glaubte, dass sie bis in die Tiefen meiner Seele blicken konnten. Und dann noch dieser Körper! Musste das sein? Konnte sie nicht einfach nur eine normale Schülerin sein, von der ich schlichtweg genervt war? Verflucht nochmal! Gereizt stellte ich meine Tasse auf der Küchenzeile ab und fuhr mir durch die Haare. Sie machte mich wahnsinnig. Sie und ihr impulsives Verhalten. Was sollte dieses süße Lächeln, das sie mir geschenkt hatte? Die Geräusche, die ihr bei meinen Berührungen entwichen? Um warum war sie so dermaßen nervös als sie aus der Praxis kam? Du tust es schon wieder, murrte meine innere Stimme, woraufhin ich stöhnend den Kopf in den Nacken legte – meine Gedankenwelt rotierte erneut nur um sie. Es war lästig. Peyton Levy war lästig. Und ich unheimlich dämlich, weil ich erst zuließ, dass sie mich aus meinem seelischen Gleichgewicht brachte.

Der schrille Ton der Türklingel brachte mich zurück in die Realität und ließ mich zusammenzucken. War Jo überpünktlich oder die Zeit wirklich so schnell vergangen? Ein Blick auf die Digitaluhr meines Backofens verriet es mir, es war genau 17 Uhr. Ungläubig schüttelte ich den Kopf. Ich hatte ganze zehn Minuten damit verbracht, über Peyton zu grübeln. So 'ne Scheiße. Wie schaffte sie das bloß? Immer wieder überzeugte ich mich selbst davon, dass sie nichts Besonderes für mich war, auch wenn ich ihr viel zu verdanken hatte und ihr bereits näher gekommen war als jedem anderen Schüler. Natürlich hatten der Kuss und ihre zahlreichen Rettungsaktionen unser Verhältnis verändert. Zum Positiven, würde ich behaupten. Zwar bereitete mir ihre Anwesenheit noch immer Unbehagen, doch ich hasste sie nicht mehr so sehr wie es vor einigen Wochen der Fall war. Dennoch rechtfertigte das nicht die Intensität, mit der sie mein Hirn unaufhörlich infiltrierte.

Schwungvoll stieß ich mich vom Küchenschrank ab und ging zur Tür. Joanna hatte inzwischen ein weiteres Mal geklingelt.

„Hallo Sonnenschein", begrüßte mich meine Freundin mit einem breiten Grinsen und drückte mir einen Kuss auf die Wange, als sie eintrat.

„Hey du", erwiderte ich und nahm ihr die Jacke ab. „Möchtest du etwas trinken?"

Joanna überlegte kurz. „Ist es zu früh für ein Glas Wein?"

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