W I D E R S T A N D

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E V E L Y N

„Mein Gott, warum fahren die denn nicht?"

Genervt seufzte ich auf und ließ den Kopf in den Nacken fallen, während meine Hände noch immer das Lenkrad fest umklammerten. Die Sonnenstrahlen fielen durch die Windschutzscheibe in das Innere meines Audis und hüllten mich in eine wohlige Wärme, die die Heizung beinahe überflüssig machten. Es war ein schöner Herbstmorgen, den ich aufgrund des Staus in der Innenstadt jedoch kein bisschen genießen konnte - man merkte, dass die Sommerferien vorbei waren. Je mehr Minuten verstrichen, desto mehr näherte sich meine Laune dem absoluten Tiefpunkt. Nachdem ich viel zu spät aus dem Bett gekommen war, geriet meine gesamte Morgenroutine vollkommen durcheinander. Als Frühaufsteherin war ich es gewohnt, mir bei allem besonders viel Zeit lassen zu können und trotzdem überpünktlich in der Schule zu erscheinen, doch nicht an diesem Morgen. Ich war nicht einmal dazu gekommen meinen morgendlichen Kaffee zu trinken und war dementsprechend kaum ansprechbar. Vor lauter Müdigkeit konnte ich meine Augen nur schwer offen halten und zwang mich regelrecht dazu, nicht in den verlockenden Sekundenschlaf zu verfallen, immerhin saß ich hinter dem Steuer eines 344 PS starken Fahrzeugs. Stattdessen drehte ich das Radio voll auf und fuhr mir durch die Haare, die ich notgedrungen offen trug. Verdammt, diese Schlaflosigkeit. Seit Tagen verfolgte mich ein und derselbe Traum, in dem mich eine Frau in meinem Schlafzimmer verführte und dabei so geschickt vorging, dass ich jedes Mal schweißgebadet aufwachte und zweifelte, ob ich mich in der normalen Realität befand. Ihre Berührungen waren vorsichtig und doch fordernd, leidenschaftlich und doch so sanft wie der Windhauch, der mich an diesem Morgen umhüllte. Ihre Identität blieb mir auch nach vier Tagen noch immer verborgen, was mich im Traum keineswegs zu stören schien - ich genoss es jedes Mal von ihr berührt zu werden. Bevor ich den genauen Hergang in meinem Kopf Revue passieren lassen konnte, bemerkte ich, dass sich die Fahrzeuge vor mir längst in Bewegung gesetzt hatten und sich eine große Lücke gebildet hatte.

„Gott sei Dank", murmelte ich vor mich hin und fuhr lautstark an.

Binnen Sekunden hatte ich die zugelassene Höchstgeschwindigkeit erreicht, an die ich mich nur ungern hielt, und raste zur Schule, wo mich meine beste Freundin Jess ihren WhatsApp-Nachrichten nach zu urteilen bereits erwartete. Normalerweise war ich immer diejenige, die sie an der Schule empfing, doch an diesem Morgen schien offenbar alles aus dem altbekannten Muster zu geraten. Ob dies wohl auch für meinen Schulalltag galt? Seit einiger Zeit verspürte ich ein eigenartiges Gefühl, wann immer ich an das bevorstehende Schuljahr dachte. Ein Gefühl, das mich zunehmend beunruhigte, auch wenn ich mir diese Unruhe niemals anmerken ließ. Als die Hillford High-School schließlich in meinem Blickfeld auftauchte, atmete ich tief durch und sammelte all meine Energie, die mir durch die schlaflose Nacht allerdings nur bedingt zur Verfügung stand. So bremste ich ein wenig zu ruckartig ab, woraufhin das Getriebe automatisch herunterschaltete und ein sagenhafter Sound erklang, den ich zugegebenermaßen nicht oft genug hören konnte. Mein Gott, was für ein Klang. Ich liebe dieses Auto. Auf der Suche nach einem Parkplatz ließ ich meinen Blick über die schmale Straße schweifen, bis er an einer Gestalt hängen blieb. Eine junge Frau lehnte mit geschlossenen Augen und einem genießerischen Lächeln auf den Lippen an einem schwarzen Motorrad, neben ihr erkannte ich eine meiner Schülerinnen, Alexis Walker. Wer ist das? In meinem Magen breitete sich augenblicklich eine unangenehme Flauheit aus, was häufig kein gutes Zeichen war. Meine Miene verfinsterte sich spürbar, doch ehe ich mich versah, verschwanden die beiden aus meiner Sicht und ich widmete mich wieder der Parkplatzsuche. Diese beendete Jess kurz darauf, indem sie mich auf eine große Lücke vor ihrem schwarzen Golf aufmerksam machte.

„Mensch, da bist du ja endlich. Ich habe mir schon Sorgen gemacht, du bist doch sonst die Pünktlichkeit in Person", begrüßte mich meine Freundin als ich aus dem Auto ausstieg.

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