F O R T S C H R I T T

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E V E L Y N

„Ich finde, du solltest zu Dr. Walker gehen."

Das Weinglas nachdenklich schwenkend, saß Joanna mit überschlagenen Beinen neben mir auf der Couch. Vor wenigen Minuten hatte ich ihr eröffnet, dass ich mich zu einer Therapie durchgerungen hatte. Es war nicht leicht, den Tatsachen schonungslos ins Auge zu blicken und schlussendlich erkennen zu müssen, dass ich professionelle Hilfe benötigen würde, um das Trauma meiner Kindheit zu überwinden. Wer gestand sich selbst schon gerne seine eigene Schwäche ein? Ich ganz sicher nicht. Alleine kam ich jedoch ums Verrecken nicht voran, egal, wie oft ich mir auch den Kopf zerbrach. Als meine Hilflosigkeit schließlich in reine Verzweiflung umschlug und ich nach dem Gespräch mit Peyton vor dem R7 in meiner Wohnung in Tränen ausbrach, war mein Kraftspeicher endgültig geleert und ich sackte zusammen. Die Sehnsucht nach ihr und die Angst vor meinen Gefühlen für sie rissen gleichzeitig an mir, es war unsagbar ermüdend. Ich fühlte mich so ausgelaugt wie noch nie zuvor in meinem Leben, einsam und tieftraurig. Etwas musste sich ändern, ich musste mein Schicksal endlich selbst in die Hand nehmen. Diese Erkenntnis war der erste Schritt. Der Zweite war, meine Freundin einzuweihen. Seitdem war das Thema präsent.

„Ich lasse mich ganz sicher nicht von der Mutter meiner Schülerin therapieren", wiederholte ich genervt und nippte an meinem Glas.

„Aber sie ist die Beste, glaub mir", beteuerte Jo. „Ich habe bisher nur Gutes über sie gehört!"

Seufzend legte ich den Kopf zurück auf das Rückenkissen.

„Das ist schön! Ich kann trotzdem nicht riskieren, dass meine Erlebnisse zum Gesprächsthema beim Abendessen mit ihrer Tochter werden."

JoJo hob den Zeigefinger und bewegte ihn langsam hin und her.

„Ärztliche Schweigepflicht. Davon hast du doch sicher schon gehört, nicht wahr?"

Oh Mann, du machst mich wahnsinnig, Jo. Warum in Gottes Namen konnte diese Frau meine Grenzen nicht akzeptieren? Natürlich wollte sie für mich nur das Beste, das war ihr Wesen. Für ihre Familie und Freunde war für Joanna kein Weg zu weit, kein Preis zu hoch und offenbar auch kein Arzt gut genug, es sei denn es handelte sich um die absolute Koryphäe. In meinem Fall war das wohl Dr. Deborah Walker, Mutter von Alexis Walker, die bekanntermaßen meine Schülerin war. Dass dieser Fakt für mich ein Ausschlusskriterium war, konnte sie seltsamerweise nicht nachvollziehen. Aber warum? Mich beschlich ein leiser Verdacht, mit dem ich sie direkt konfrontierte.

„Vögelst du mit ihr?"

Überrascht verschluckte sie sich an ihrem Wein, woraufhin ich ihr beherzt auf den Rücken klopfte.

„Um Gottes willen, nein!" presste sie mühsam zwischen dem Husten hervor. Sie brauchte noch einige Sekunden bis sie wieder normal atmen und sprechen konnte, dann fügte sie hinzu:

„Ich wünschte, es wäre so! Sie ist rattenscharf."

Selbstverständlich wünscht du dir das, dachte ich und verdrehte die Augen, woraufhin ich von ihr einen Faustschlag gegen den Oberarm erntete.

„Aua!", heulte ich auf und verzog schmerzerfüllt das Gesicht. „Das hat weh getan, du Schnepfe!"

Jo hob die Augenbrauen, ohne jede Spur von Mitleid.

„Geschieht dir ganz recht, Ev", erwiderte sie unbarmherzig. „Ich weiß nämlich ganz genau, was du gerade gedacht hast."

Ich wich zurück und zuckte mit den Schultern.

„Ist doch wahr! Welche rattenscharfe Frau willst du nicht vögeln?"

„Peyton, zum Beispiel", rutschte es ihr heraus, wofür sie sich im nächsten Augenblick sichtbar selbst verfluchte.

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