S C H E R B E N

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E V E L Y N

Noch immer kniete ich auf dem Boden des Lagerraums, die Hände vor mir abgestützt, und versuchte mich wieder zu fangen. Die vergangenen Minuten, in denen ich mit Peyton eingesperrt war, hatten mich aufgewühlt. Es fiel mir schwer, auch nur einen klaren Gedanken zu fassen. Nicht unüblich nach einer solchen Panikattacke, dieser Zustand war mir bereits vertraut und ich wusste mehr oder weniger damit umzugehen, doch das Gespräch mit meiner Schülerin fügte dem Ganzen eine Schwere hinzu, die mich buchstäblich außer Gefecht setzte. Mein Gehirn sandte meinen Gliedern unzählige Befehle, doch sie gehorchten nicht, als waren sie fremde Objekte, die bloß mit Metallklammern an meinen Körper getackert waren. So verharrte ich weiterhin auf dem kalten Betonboden und rührte mich keinen einzigen Zentimeter. Irgendetwas zog mich herunter. Wie ein gewaltiger Anker, der in die Tiefe sauste, nachdem man ihn in die raue See geworfen hatte. Und ich, am anderen Ende an ihn gekettet, drohte zu ertrinken, denn ich war nicht imstande, dem immensen Gewicht entgegenzuwirken. Mir fehlte die Kraft dazu, ich war schlichtweg zu schwach.

„Hey... Alles okay?"

Ich sah auf und blickte in Jess' hellblaue Augen, in denen ich aufrichtige Sorge erkannte. Sie hockte vor mir und scannte eindringlich mein Gesicht, voller Hoffnung, darin lesen zu können. Das tat sie immer, wenn sie hinter meine Fassade schauen und meine wahren Emotionen zu Tage fördern wollte, und meistens gelang es ihr auch. Dieses Vorgehen war in jenem Moment jedoch nicht von Nöten, da war ich mir sicher. Bestimmt hatte sie es längst bemerkt. Bestimmt konnte sie dabei zusehen, wie meine Seele in tausende Einzelteile zerschmetterte. Als obendrein auch noch die Tränen in mir aufstiegen und eine von ihnen über meine rechte Wange lief, kniete sie sich ebenfalls auf den Boden und zog mich unmittelbar in eine Umarmung. In meiner Verzweiflung erwiderte ich sie und vergaß einen Augenblick lang alles, was zwischen uns vorgefallen war. Peyton konnte mich zwar nach meiner Panikattacke beruhigen, von dem Schmerz über unsere darauffolgende Unterhaltung vermochten mich ihre sanften Küsse jedoch nicht zu befreien. Die Erinnerung daran verstärkte ihn vielmehr. Ich halte das nicht mehr aus. Während ich eisern versuchte, die Tränen aufzuhalten und das aufkommende Schluchzen zu unterdrücken, strich Jess ganz langsam über meinen Rücken, um mich zu trösten. So hatte ich mich noch nie gefühlt. Kein Wunder, ich hatte niemals zuvor jemanden auf diese Art und Weise verloren, der mir so unglaublich wichtig war wie Peyton. Mein Herz brannte lichterloh über diesen Verlust, er brachte mich wieder und wieder um. Gleichzeitig empfand ich ein außergewöhnliches Maß an Selbsthass, wodurch ich zerrissen zwischen Wut und Trauer hin und her schwankte. Aber das war zweitrangig, um nicht zu sagen irrelevant. Viel wichtiger war der Zustand meiner Schülerin, nichts anderes zählte für mich mehr als dass es ihr gut ging. Ich muss etwas tun, schoss es mir durch den Kopf. Doch was? Sicher war ich die Letzte, die sie nun sehen wollte, immerhin hatte ich ihr enorm weh getan. Welche Möglichkeit blieb mir also noch?

„Jess", wisperte ich an ihre Schulter und wich ein wenig zurück. „Bitte... Sieh nach Peyton."

Meine Freundin runzelte kurzzeitig die Stirn und sah mich fragend an. Ich warf ihr einen flehenden Blick zu und das war offenbar Antwort genug. Sie erkannte den Ernst der Lage, das verriet mir ihr besorgter Gesichtsausdruck. Da ich wusste, wie viel ihr an Peyton lag, konnte ich mich darauf verlassen, dass sie meiner Bitte nachkommen und sich gut um sie kümmern würde. Mit einem stummen Nicken erhob sie sich und reichte mir die Hand, um mir aufzuhelfen, die ich ohne zu zögern ergriff. Danach wechselten wir kein weiteres Wort miteinander. Während sich Jess auf die Suche nach Peyton begab, atmete ich noch einmal tief durch, straffte den Rücken und richtete meine Kleidung, dann verließ auch ich den Lagerraum.

Den restlichen Tag lief ich wie Falschgeld durch die Gegend; gefangen in meinen Gedanken, die sich allesamt nur um sie drehten. Glücklicherweise würde ich ihr im Unterricht nicht mehr begegnen, nun musste es das Schicksal nur noch gut mit mir meinen und dafür sorgen, dass wir einander nicht im Schulhaus begegneten. Zu meiner Überraschung war mir Fortuna ausnahmsweise zugeneigt – ich traf kein weiteres Mal auf Peyton. Als ich am Nachmittag meine Wohnung betrat, nahm ich als erstes die angebrochene Flasche Wein aus dem Kühlschrank und stellte sie auf der Arbeitsfläche ab. Erst danach stellte ich meine Tasche ab, zog Mantel und Schuhe aus, und schlüpfte in meine Freizeitklamotten. Ein Montag wie dieser verlangte eine ganz besondere Abendgestaltung: Wein, ungesundes Essen, noch mehr Wein und einen schnulzigen Liebesfilm. Oder doch lieber einen Splatter-Horror-Streifen? Scheißegal, zuerst kommt der Wein, dachte ich und schenkte mir ein Glas ein, das ich relativ zügig geleert hatte. Normalerweise war ich ein Genussmensch und teilte mir diese Köstlichkeit ein, aber mein Körper schrie förmlich nach Alkohol und meinen Geschmacksknospen lüsterte es nur nach einem guten Rotwein. Schnaps und andere harte Spirituosen waren damit raus, wenngleich sie meine Sinne höchstwahrscheinlich stärker betäubt hätten. Deswegen ließ ich mir diese Option trotzdem noch offen, der Abend war schließlich noch jung. Ich füllte ein weiteres Glas, dann ging ich ins Wohnzimmer, stellte den Wein auf dem Couchtisch ab und ließ mich auf mein heißgeliebtes Sofa fallen. Dort saß ich eine Weile und tat nichts, außer an die Zimmerdecke zu starren. Umgeben von Stille, versuchte ich das Chaos zu ordnen, das laut in meinem Kopf wütete. So konnte es nicht weitergehen. Ich durfte meiner Vergangenheit nicht länger zum Opfer fallen und mir dadurch mein gegenwärtiges Leben versauen. Das war mir längst klar, doch wie sollte ich das anstellen? Die Tage vergingen und dennoch kam ich kein Stück weiter. Ich hing in dieser Misere fest. Wie eine Fliege in einem Spinnennetz zappelte ich wild vor mich hin, befreien konnte ich mich letztlich aber trotz allem nicht. Wann immer mich der Mut packte und ich impulsiv zu Peyton stürmen wollte, hielt mich meine innere Blockade schlussendlich zurück und ich erstarrte zu Eis, erfüllt von Angst und Zweifeln. Dann spielte sich vor meinem inneren Auge ein Film des Grauens ab, eine Mischung aus Erinnerungen aus meiner Kindheit und Szenen purer Schwarzmalerei, und ich blieb wie angewurzelt stehen. Dieser Vorgang wiederholte sich beinahe täglich und immer endete es damit, dass ich rat- und tatenlos auf derselben Stelle verweilte wie zuvor. Ätzend. Ich verachtete mich selbst für meine Schwäche und für meine hirnrissige Furcht vor Gefühlen. Konnte man Joannas Beschreibung glauben, gab es nichts Schöneres als zu lieben und von einem anderen Menschen aufrichtig geliebt zu werden. Sie ging sogar so weit, es als das ultimative Lebensglück zu bezeichnen. Und genau dieses Glück verwehrte ich mir selbst. Wie bescheuert! Dass es absurd und schlichtweg dämlich war, musste man mir nicht sagen. Es war mir nur allzu bewusst, einen inneren Kompass, der mir den Weg weisen würde, verlieh mir diese Einsicht aber nicht. Fuck. Frustriert nahm ich das Weinglas vom Tisch und trank einen großen Schluck davon, bis mich die Türklingel zusammenzucken ließ und ich mich dadurch entsetzlich verschluckte. Einige Sekunden musste ich stark husten und bekam keine Luft. Währenddessen schrillte die Klingel gefühlt immer lauter, dann verstummte sie und ich hörte nur noch ein lautes Klopfen.

Y O U !Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt