W U N D E N

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E V E L Y N

„Ich brauche einen Kaffee", murmelte ich vor mich hin und legte den Rotstift nieder.

Wie jede Woche nutzte ich meine Freistunde, um die Hausaufgaben und Tests meiner Klassen zu korrigieren, damit ich die unzähligen Papierstapel nicht mit nach Hause schleppen und meine Freizeit dafür opfern musste. An diesem Tag war ich ganz besonders froh, über diese eine unterrichtsfreie Stunde zu verfügen, denn ich war noch immer völlig durch den Wind, schockiert über die jüngsten Ereignisse. Die Erinnerungen an Peytons Unfall und ihre ablehnende Haltung mir gegenüber verfolgten mich, ich bekam sie einfach nicht aus meinem Kopf. In einer Endlosschleife spielten sie sich wie ein Film vor meinem inneren Auge ab. Momente, in denen meine Welt noch mehr aus den Fugen geraten war. Es zerriss mir das Herz, meine Schülerin so zu erleben. Voller Groll, Verzweiflung und Wut. Das Leid in ihren hellblauen Augen erschütterte mich bis ins Mark, ließ meine Seele schwer werden und meinen Selbsthass um ein Vielfaches wachsen. All das nur wegen mir. All das nur wegen meiner lähmenden Angst, die mir so unbezwingbar erschien wie die aufgehende Sonne. Dass ich etwas gegen sie unternehmen musste, hatte ich bereits erkannt. Damit war ich ein großes Stück vorangekommen, vom eigentlichen Ziel war ich dennoch meilenweit entfernt. Von der Komplexität und Schwierigkeit dieser Aufgabe wollte ich mich aber nicht entmutigen lassen, Aufgeben war für mich keine Option. Und es kam mir auch nie in den Sinn, ich wollte es schaffen. Für mich. Für sie. Für uns.

Gedankenversunken lief ich durchs Schulhaus und genoss die Stille. Man hätte eine Stecknadel fallen hören können, nur in den Korridoren drangen vereinzelt dumpfe Stimmen durch die Türen hindurch. In knapp 15 Minuten würde hier wieder eine Geräuschkulisse wie auf einem Bahnhof vorherrschen, denn dann klingelte es zur Mittagspause. In dieser Sekunde beschloss ich, diese erneut in meinem Klassenraum zu verbringen, so wie ich es in den letzten Wochen getan hatte. Normalerweise gingen Jess und ich gemeinsam in die Cafeteria, um eine Kleinigkeit zu essen, doch zwischen uns herrschte noch immer Funkstille. Ich vermied jedes mögliche Aufeinandertreffen, jeden Blickkontakt, und wenn ich ihr unglücklicherweise trotzdem begegnete, behandelte ich sie wie Luft und übte mich in purer Ignoranz. Auch wenn ich selbst für die Trennung verantwortlich war, konnte ich ihr nicht verzeihen, dass sie meine Angst gegen mich verwendet hatte. Ich erwartete nicht, dass sie in Freudenjubel ausbrach und mich zu dieser verbotenen Beziehung beglückwünschte. Doch von einer sogenannten besten Freundin sollte man Verständnis erwarten können, wenigstens ein kleines Bisschen. Jess hingegen machte sofort dicht und wollte mich nicht einmal anhören, sie hatte keinerlei Interesse daran es zu verstehen und entschied sich lieber dafür, mich gnadenlos fertigzumachen. Als beste Freundin hatte sie für mich versagt und ich war mir ziemlich sicher, dass sie dasselbe über mich dachte. Immerhin hatte ich ihr meine Affäre mit Peyton bis zuletzt verschwiegen und stattdessen JoJo ins Vertrauen gezogen. Zugegeben, an ihrer Stelle wäre ich darüber auch bitter enttäuscht gewesen. Wer wollte schon gerne ausgeschlossen werden? Aber mein Bauchgefühl riet mir dazu, denn ich ahnte bereits, dass Jess es lange nicht so entspannt aufnehmen würde wie Jo. Wie ich rückblickend feststellen musste, hatte mich meine Intuition wieder nicht im Stich gelassen.

Im Erdgeschoss angekommen, steuerte ich auf das Lehrerzimmer zu und nahm meine Umgebung kaum wahr, so vertieft war ich in meine innere Rechtfertigung. Erst als sich eine Klassenzimmertür unverhofft öffnete und Peyton überraschend herauslief, blieb ich abrupt stehen, zur Salzsäule erstarrt. Sofort fielen mir die Tränen auf, die in ihren Augen schimmerten, und ich musste schwer schlucken, denn dieser Anblick war immer wieder die reinste Qual für mich. Als sie mich bemerkte, verfiel sie in eine Art Schockstarre und rührte sich plötzlich keinen einzigen Zentimeter mehr, während sich ihre Augenbrauen zusammenzogen. Sie sah traurig aus, so unfassbar traurig. Ich wäre am liebsten zu ihr gelaufen, hätte sie in meine Arme geschlossen und nie wieder losgelassen, aber das konnte ich mir nicht erlauben. Stark bleiben, Evelyn, sprach ich mir selbst gedanklich zu, denn mit jeder Sekunde, die verstrich, schwand meine Selbstbeherrschung spürbar dahin wie Wasser. Ich löste meinen Blick von ihrem und entdeckte die Bandagen an ihrem linken Bein. Was war mit ihrer Hose passiert? Bevor ich weiter darüber nachdenken konnte, erweiterte sich unsere Runde: Im Hintergrund erkannte ich Jo, wie sie das Sekretariat verließ und sichtbar unruhig auf uns zusteuerte, als befürchtete sie das Schlimmste. Kritisch wurde es jedoch erst als Jess aus demselben Klassenraum kam wie zuvor schon meine Schülerin. Nun war ich diejenige, die vom Schlimmsten ausging, wodurch sich augenblicklich meine Hände zu Fäusten ballten. Warum waren die beiden in diesem Raum? Was wollte Jess von Peyton? Sicher ist sie für ihren Zustand verantwortlich, mutmaßte ich innerlich und lief auf sie zu, meine Kollegin dabei starr im Visier. Gleichzeitig setzte sich auch meine Schülerin in Bewegung, offenkundig um der Situation zu entkommen. Als wir aneinander vorbeiliefen, kam mir alles vor wie in Zeitlupe. Ich atmete ihren unverwechselbaren Duft ein, schloss für den Bruchteil einer Sekunde sehnsüchtig die Augen, da streiften sich unsere Handrücken und ich bekam eine tiefe Gänsehaut. Perplex über die Berührung, drehte ich mich zu ihr um und traf auf das helle Blau ihrer Iris - sie schaute mich genauso wehmütig an wie ich es tat. Peyton. Dieser innige Moment, erfüllt von Sehnsucht und Schmerz, hielt nur wenige Augenblicke an, dennoch fühlte er sich an wie eine Ewigkeit. Irgendwann wandte sie sich wieder von mir ab und verschwand aus meinem Sichtfeld, wodurch das Herz in meiner Brust unheimlich schwer wurde. Sie fehlte mir. Gott, wie sehr sie mir fehlte! Ihr Anblick, diese niederschmetternde Traurigkeit in ihren Zügen, setzte mir enorm zu, denn ich allein war die Ursache dahinter. Ich und meine Freundin Jess. Oder sollte ich sie besser als meine ehemalige Freundin betiteln? Bei diesem Gedanken wandelte sich meine Stimmung und ich wurde wieder von der Wut auf meine Kollegin gesteuert. Jetzt kannst du was erleben!

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