B E I S T A N D

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P E Y T O N

„Alles okay?", hörte ich Lexi an mein Ohr flüstern und spürte sogleich ihre Hand auf meinem Unterarm.

Nichts ist okay. Ich gab es ungern zu und wollte es mir auch gar nicht erst eingestehen, doch ich war am Ende. Innerlich leer. Alles war weg. Jedes Gefühl, jeder Gedanke - einfach alles. Die Musikprüfung hatte mir viel Kraft abverlangt, alte Wunden aufgerissen. Und ich hatte Schuld auf mich geladen. Eine Schuld, die daraus entstanden war, dass ich meine alte Schuld verdrängt hatte. Dass ich sie in die hintersten Winkel meines Bewusstseins verbannt hatte, denn sie war kaum zu ertragen. Umso stärker fühlte ich sie nun, sie brannte wie Säure in mir, schmerzte wie Messerstiche. Sie schnürte mir die Luft ab, bescherte mir Übelkeit, ließ mein Herz schwer werden wie Blei. Meine Umgebung hatte ich komplett ausgeblendet. Geräusche und Stimmen nahm ich nur noch dumpf und distanziert wahr, als war ich von Wasser umgeben. Mein Tunnelblick war starr nach vorn gerichtet und klebte quasi an Aidens Rücken, der direkt vor mir saß. Es war ein Fehler, in der Schule zu bleiben. Ich hätte nach Hause fahren sollen, Evelyn hatte Recht. Dem Unterricht konnte ich sowieso nicht folgen, so sehr ich mich auch bemühte. Das schien auch meine Lehrerin zu bemerken, denn ich spürte immer wieder ihre besorgten Blicke auf mir ruhen. Normalerweise gab es für mich nichts Besseres, nichts Schöneres, als in Evelyns Unterricht zu sitzen und ihrer wunderbaren Stimme zu lauschen. Sie anzusehen und ihre Schönheit in mich aufzunehmen. Ich bekam jedes Mal Herzrasen und ein heftiges Kribbeln schoss durch meinen Bauch, doch an diesem Freitag empfand ich nichts dergleichen. Als hatte man mich meiner Seele beraubt und sie durch eine qualvolle Dunkelheit ausgetauscht, die mich nun Stück für Stück verschlang. Ich wusste nicht, was ich dagegen tun sollte. Wusste nicht, wie ich mir selbst helfen sollte. Meine Lage erschien mir ausweglos und unüberwindbar, ich hatte jegliche Hoffnung verloren. Das war sie wohl, die Strafe für meine Schuld, und ich stellte mich ihr, empfing sie wie einen alten Freund. Nach allem, was ich angerichtet hatte, hatte ich es nicht anders verdient. Karma besaß kein Verfallsdatum, und es verlor niemals eine Adresse.

„Peyton?"

Für einen kurzen Moment holte mich Lexi aus meiner tiefschwarzen Gedankenwelt zurück. Ich hatte noch immer nicht auf ihre Frage reagiert. Was sollte ich sagen? Sollte ich lügen? Eine Maske aufsetzen und ihr etwas vormachen? Oder sollte ich ehrlich sein und sie an meinem Schmerz teilhaben lassen? Beides erschien mir keine gute Idee zu sein, am liebsten hätte ich gar nicht geantwortet und mich unsichtbar gemacht. Aber das hatte sie nicht verdient. Dass sie eine echte Freundin war, auf die ich mich verlassen konnte, hatte sie mir in den letzten Tagen und ganz besonders an diesem Freitag bewiesen. Sie stand mir zur Seite, hielt meine Hand als ich durch meine ganz persönliche Hölle ging. Ohne sie hätte ich das nicht überstanden und wäre höchstwahrscheinlich zusammengebrochen, gelähmt von meinen Schuldgefühlen und der tonnenschweren Last, die ich seit Jahren mit mir herumtrug. Doch so weit kam es nicht und das hatte ich ihr zu verdanken. Ihr und Evelyn, die während der Prüfung und auch danach eine ebenso große Stütze für mich gewesen war. Als ich darüber nachdachte, wie glücklich ich mich schätzen konnte, diesen zwei Menschen begegnet zu sein, fühlte ich einen kleinen Funken Wärme in meiner Brust. Sie waren das einzige Licht in dieser Finsternis. Und meine Rettung, wie ich schon bald realisieren sollte.

„Ja, geht schon", flüsterte ich und rang mir ein Lächeln ab, was mir fürchterlich misslang.

Eigentlich war ich geübt darin, meine wahren Gefühle zu verbergen und meinen Mitmenschen eine Fassade zu präsentieren, die keinerlei Verdachtsmomente aufkommen ließ. Jeder sah in mir die freundliche, quirlige Peyton, die gerne lachte und nie um einen Spruch verlegen war. Die starke Kämpferin, die so leicht nichts erschüttern konnte. Das war es, was ich ihnen vorspielte. Das war es, was ich sie glauben lassen wollte. Alles andere wollten sie ohnehin nicht sehen. Meine Schattenseiten. Meine Schwächen und meine Vergangenheit, die ich in mein Herz eingeschlossen hatte. Nein, das wollte niemand sehen. Denn die Menschen sahen nur, was sie bereit waren zu sehen.

Y O U !Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt